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Kommunikationssprachen dienen der Verständigung, Reflexionssprachen dienen dem Verständnis. Sprachverständnis ist eine Voraussetzung für Gedankenverständnis. Kenntnisse in Fremdsprachen ermöglichen kulturellen Austausch. Die landläufige Auffassung vom Zweck des Erlernens und Beherrschens von Fremdsprachen berücksichtigt bis hinauf in die EU- und OECD-Behörden vorrangig einen Aspekt: Sie geht im Wesentlichen von Alltagskommunikation und der Informationsvermittlung in Gebrauchstexten aus, in noblen Fällen von Literaturfähigkeit. Der Umgang mit Reflexionssprachen zielt hingegen auf ein differenziertes allgemeinsprachliches, muttersprachliches sowie textinhaltliches Verstehen ab.

Der Deutsche Altphilologenverband bietet in der Diskussion um Sinn und Zweck bestimmter Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere des Latinums, zur Orientierung für Interessierte eine Handreichung mit Informationen über Ziele, Vorgänge und Erträge der Beschäftigung mit Reflexionssprachen, wobei der Schwerpunkt auf dem Lateinischen liegt. Damit will er Anstöße geben, die den Gedankenaustausch und die Debatten zum Thema Sprachkompetenz und Fremdsprachenkenntnisse bereichern können.

Das Feld der Fremdsprachen teilt sich – wie im einleitenden Abschnitt bereits angesprochen – unter anderem in die zwei Großbereiche der Kommunikations- und der Reflexionssprachen auf. Erstere werden verwendungsorientiert gelehrt und praktiziert. Kontaktaufnahme und -pflege sowie die Erstellung von Texten bis zu einem mittleren Schwierigkeitsgrad stehen für das Gros der Menschen, welche sie erlernen und verwenden, im Vordergrund. Reflexionssprachen hingegen sind primär gerade nicht dazu ausersehen, sich in einer Fremdsprache im Alltag zu verständigen. Ihre Texte erbringen ihren Ertrag über des gleichzeitige Beschreiten zweier Wege, eines aus der Binnensicht und eines aus der Außenperspektive: Nach einer klar strukturierten Analyse der Textbestandteile gelangt man zur Vergewisserung hinsichtlich der darin enthaltenen, präzise abzugrenzenden Einzelaussagen. Damit einhergehend – und das reicht grundsätzlich über die Einzelsituation hinaus – kommt es zu einem sich ständig erweiternden Gewinn an detaillierter persönlicher sprachsystematischer Kenntnis und Durchdringungsfähigkeit wie auch wegen der ganz arttypisch dazu gehörenden Übersetzungstätigkeit mit all ihrer Feinabeit zu einem breiten Repertoire in der Zielsprache, also in unserem Falle des Deutschen.

Konstituierender Bestandteil eines Unterrichts in den Reflexionssprachen ist dabei erklärlicherweise auch die Erarbeitung und Aneignung eines durchorganisierten und transparenten allgemeinsprachlichen Kategoriensystems und Begriffsapparates. Das Bewusstsein hierzu ist in der Öffentlichkeit und auch in einschlägigen Blogs nur gelegentlich durchgängig ausgeprägt. Hier setzt das Hintergrundmaterial an, welches Sie im Folgenden finden werden. Wir haben Ihnen hierzu aus dem Bereich der schulischen Arbeit einige Ausführungen zusammengestellt.

Vertiefende Betrachtungen

Vom Begriff zum Begreifen

High noon im Morgengrauen – geplatzt: Der geplante Putsch samt der Ermordung des Konsuls ging schief. Eine Klasse sitzt gerade an einer Übersetzung zum gescheiterten Staatsstreich, bei dem Cicero getötet werden sollte. Sarah (Name geändert) meldet sich, stellt zur Diskussion: „Kann man hier nicht statt ‚Du hast den Deinen befohlen, mich beim ersten Licht zu töten‘ besser sagen ‚Du hast deine Komplizen angewiesen, mich in aller Frühe zu meucheln‘? Das trifft doch genauer, klingt nach der Sprache für diese Situation und wirkt auch besser.“ Es geht hier ums Ganze – sachlich wie sprachlich. Das ist nicht voneinander zu trennen. Die Schülerinnen und Schüler wollen es durchaus genau wissen. Wo dies nicht erfüllt wird, werden sie um ein ureigenes Anliegen betrogen.

Übersetzen aus der Reflexionssprache ist mikroskopisches Lesen 

Die Bemühung um die treffendste Bedeutung in der Zielsprache ergibt sich dabei aus der Festgefügtheit der bestehenden Vorlage: Übersetzung ist keine Paraphrase (wohl aber eine Interpretation und „Neuschöpfung“). Die Reflexionen in den Schülerköpfen laufen mehrstufig ab: An der Basis zwischen den Bestandteilen und Facetten des einzelnen Ursprungs- und des Zielbegriffs, auf einer weiteren Stufe zwischen Ursprungsaussage und Übersetzung und in den übergreifenden Betrachtungen zwischen Ursprungssprache und Zielsprache, wobei es hier neben der Grammatik und dem Vokabular auch um Stil und Idiomatik, das heißt um das sprachtypische, das redensartliche Profil in den für jede Sprache eigenen und oft genug prägenden Fomulierungsweisen geht. Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache bekommen beim Übersetzen aus einer Reflexionssprache gerade auch fürs Deutsche eine durchentwickelte und in Schritten aufbereitete Systematik geboten und üben zusammen mit den Muttersprachlern darüber hinaus das Durchdringen von Tiefenstrukturen. Die Vorlage und die Übersetzung als Vorgang wie als Ziel bedingen dabei, sich über jeden einzelnen Gedankenschritt und jedes Detail genau Rechenschaft abzulegen.

Die Eingangsepisode zeigt, dass das Ringen um die beste Formulierung in besonderer Weise beim Übersetzen, zumal aus einer hochgradig systematisch aufgebauten Reflexionssprache mit häufig stilistisch sehr bewusst gestalteten Texten, beste Gewinne für die Trittsicherheit und das Repertoire in der Zielsprache, in diesem Falle also im Deutschen, erbringt. Das Verfahren schult wie eingangs gesagt darüber hinaus naturgemäß das grundsätzliche Sprachbewusstsein. Wer darüber verfügt, profitiert gerade in Kommunikationsberufen von ebenso souveränem wie subtilem Sprachempfinden und vermeidet Unschärfen, die zu Missverständnissen führen.

Deutschlehrkräfte sind gefordert, ihre Sprache stimmig zu erklären

Karim (Name geändert) schreibt in der dritten Klasse: „Gester haben lesten wir das Text, weil das ist gespannt.“ Jetzt ist das Begriffs- und Kategorienrepertoire der Grundschullehrkraft gefordert. Kann sie mehr leisten, als nur die Einzelstelle einfach zu korrigieren? Kann sie die einzelnen Dinge so aufbereiten und deutlich machen, dass das Kind schnell die Systemregeln erkennt und in für Kinder typischer Analogiebildung fortan richtig formuliert? Prominente Stimmen aus dem Bereich der Germanistik mahnen für den Schwerpunkt der Lehrerausbildung mancherorts schon länger einen erhöhten Bedarf an, das auszubildendes Personal terminologisch und kategorial über gewohnte Pflichtumfänge hinaus gut aufzustellen. Das in Presse und Politik zunehmend ins Bewusstsein dringende Scheitern des Schreibenlernens nach Gehör, eine starke Reduktion des Grundschulwortschatzes sowie neuerdings eine von der Standardgrammatik abweichende und kaum für Klarheit sorgende Satzlehre im Deutschunterricht, von welcher sich die Schüler wahrscheinlich relativ zügig wieder verabschieden werden, weil sie von Ungereimtheiten gekennzeichnet und mit wenig anderem kompatibel ist, gestalten Sprachbetrachtung eher unübersichtlich und sorgen für Frustration bei Schülern wie Eltern. So manchen Lehrkräften, welche eigentlich als Fachautoritäten fungieren sollten, steht nach fachinternen Beobachtungen die Substanz dieses Bereiches oft nicht mehr in ausreichendem Maße zu Gebote. Verwechslungen von Adverb mit adverbialer Bestimmung (Umstandsbestimmung) oder Dativ mit Objekt sind an der Tagesordnung und zeugen von einer besonderen Art der Erklärungsnot. Mehr können darf das Kind dann oft auch nicht.

Schon vor rund einem Jahrzehnt hat deshalb – Medien berichteten darüber – die Hochschule in Vechta für Deutschlehrkräfte in spe Lateinkurse eingeführt, um den Studierenden die als notwendig erachtete Fachsicherheit auf dem Gebiet der Sprachsystematik zu vermitteln. Meldungen über entsprechende Erfolge wie über die gute Resonanz bei den Studierenden haben allerdings zum einen ein gewisses deutschlandweites Trägheitsmoment nicht aufgehoben, und zum anderen stößt dieses Muster auf eine Art künstlich geschaffenen Feind, nämlich die seit den Bologna-Reformen bestehenden Strukturen in den Studiengängen: Es fehlen Zeitreserven.

Latein bietet ein idealtypisches Modell für Sprache 

Die Reflexionssprachen Latein und Altgriechisch sind Sprachen mit vielen äußeren Markern: Ihr verhältnismäßig ausgebauter Umfang an Endungen ergibt einen Formenbaukasten, aus welchem sich nicht nur Wortbildungen, sondern insbesondere Bezüge und Satzgliedfunktionen erschließen lassen. Der Satzbau ist relativ frei, die Formen sind ihrerseits systemprägend, und darüber hinaus bieten die Texte oft rhetorische, gelegentlich sogar rhythmische Strukturhilfen. Die Formen wie auch die weiteren genannten Systemmerkmale fordern der Person, welche sich einen Text erschließt, Entscheidungen in der Zuordnung ab. So ergibt sich im Kleinen ein folgerichtiger Denkpfad vom Einzelwort erst als Vokabel, weiter über seine Form bis hin zur Rolle im Satz, also in der versprachlichten inhaltlichen Aussage.

Das methodische Vorgehen im Größeren, also bei der Erschließung der durchgeformten literarischen Texte ist ebenfalls ein Dreischritt: Der erste besteht in einer (Abschnitts- und) Satzbauanalyse, welche überblicksartig die Grundstruktur freilegt. Ihm folgt die direkte Decodierung des Einzelsatzes mit der Erfassung der Bezüge zwischen Wortbedeutungen und Formen. Der dritte ist damit eng verknüpft und besteht in der Recodierung, also der Übersetzung in die Zielsprache. Dabei sorgt ein Hin- und Herspringen an Einzelstellen für einen Abgleich zwischen Urtext und Übersetzung, bei dem die inhaltliche und grammatische Richtigkeit, die idiomatische Stimmigkeit sowie die stilistische Zielgenauigkeit abgesichert werden. Dies führt mit der Zeit zum Begreifen, wie Sprache funktioniert, wie man geschickt mit dem Deutschen umgeht und nebenbei zu einem elaborierten Sprachrepertoire. Das sprachliche Ausgangsniveau beim Einsteigen muss keineswegs eine pole position darstellen. Man muss nur mitgehen können und engagiert sein.

Begegnung mit dem „nächsten Fremden“ als Kulturbetrachtung

Moderner Latein- und Griechischunterricht ist bei aller Detailtreue immer ganzheitlich. Die sprachliche Erschließung und Analyse geht Hand in Hand einher mit dem Kennenlernen und der Erweiterung eines Kulturhorizontes. Dieser birgt nicht nur generell den genetischen Code des abendländischen Kulturkreises, sondern zeigt dabei auch Elemente eines frühen Kulturaustausches zwischen Orient und Okzident und innerhalb des römischen Reiches, welche bis heute konstituierende Merkmale Europas darstellen, ohne dass uns dies immer bewusst ist. Das Gesamtspektrum beginnt mit dem von den Phöniziern übernommenen Alphabet, reicht über literarische Stoffe, philosophische Menschenbilder und Weltdeutungen, Kunst und Architektur, Technologien und Kulturpflanzen bis hin zu politischen und gesellschaftlichen Konzepten und weit darüber hinaus – die Prägung durch die überliefernden Sprachwelten selbstverständlich eingeschlossen. 

Der Gegenstand ist sehr spezifisch, die Methode ist es auch

Der ganz eigene Ansatz des Unterrichts in den Reflexionssprachen ist das Kennzeichnende und das Unterscheidungs- beziehungsweise Alleinstellungsmerkmal. Der Ansatz der Vermittlung wie auch der Zielsetzung des Erlernens der Kommunikationssprachen ist auf einer anderen Ebene beheimatet. Von daher empfiehlt es sich, die zwei Typen von Sprachen und von Unterricht in  verschiedenen Kategorien anzusiedeln. Gleichwohl geht es in beiden Fällen um Fremdsprachen. Daher stehen sie teilweise auch in schulorganisatorischer Konkurrenz, nur sind ihre Inhalte komplementär zueinander.

Eine Facette einer besonderen Ausprägung von Bildungsgerechtigkeit könnte man an dieser Stelle in der Tatsache vermuten, dass auf dem beschriebenen und erläuterten Wege Hilfen in Anspruch genommen werden können, welche ein sehr förderliches Maß an wertvollen persönlichen wie fachlichen Fähigkeiten vermitteln, ein breites Fundament an Wissen aufbauen und – was den entscheidenden Schritt zur Bildung ausmacht – ein immer wieder neues tiefgründiges Nachforschen, Erkennen und Verstehen ermöglichen. 

Karl Boyé
(Pressesprecher DAV)