Eleanor Dickey, Latein lernen wie in der Antike. Latein-Lehrbücher aus der Antike. Aus dem Englischen übersetzt von Marion Schneider, Basel (Schwabe Verlag) 2022, ISBN Printausgabe 978-3-7965-4088-2, ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4645-7, 22,00 Euro

In Witzesammlungen der 1970er Jahre fand sich der folgende: „Was hatten die alten Römer uns voraus? – Sie brauchten nicht Latein zu lernen.“ Es gehört zum Charme des hier vorgestellten Werkes, dass diese vermeintlich banale Alltagsweisheit hinterfragt wird: Auch in der Antike und von Römerinnen und Römern wurde Latein erst gelernt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Bewohner der östlichen Reichshälfte, für die Erstsprache oder alltägliche Lingua franca Griechisch war, die aber für Aufgaben in der Verwaltung oder im Heer, für eine Tätigkeit als Kaufmann oder im juristischen Bereich Lateinkenntnisse benötigten. Dafür entstand in der Antike eine Reihe von Materialien, die Eleanor Dickey in der angenehm zu lesenden Übersetzung von Marion Schneider hier einleitet und in Auswahl präsentiert. Die Einleitung beantwortet die Fragen nach den Lernenden (dem zwar wissenschaftlich stets fundierten, aber didaktisch orientierten Grundduktus des Buches käme es entgegen, hier noch biographisch fassbare Beispiele zu ergänzen – ob der Apostel Paulus als civis Romanus, der sich dem Rezensenten aufdrängt, ein schülernahes Exempel wäre, sei dahingestellt), nach der Methodik (durch bilinguale Texte, wobei Grammatiken auch für Anfänger einsprachig Lateinische waren, was wohl nur bedingt funktionierte – siehe S. 20), nach den Überlieferungswegen (Papyri und Handschriften ergänzen einander – in der indirekten Überlieferung sind die Hermeneumata von besonderem Interesse) und nach der Auswahl, in der der Hauptteil des Buches diese Texte bietet. Dieser nämlich enthält eine Sammlung von Texten aus antikem Lehrmaterial. Dabei wird so verfahren, dass die für die Lernenden verständlichen griechischen Passagen in deutscher Übersetzung wiedergegeben sind, das Lateinische (auch das nur Lateinische) lateinisch. Die Textauswahl beinhaltet Kolloquien, also sprachführerartig zweisprachig gestaltete Alltagsszenen, aber auch solche aus dem juristischen und mythologischen Bereich, Anekdoten oder Fabeln, Ausschnitte aus der Aeneis, Musterbriefe und eine Sallust-Kommentierung), Ausschnitte aus grammatikalischen Werken (Dositheus, schon in der Antike in Auswahl zweisprachig geboten, und Charisius, hier nur lateinisch geboten) Glossaren (hier in ausgewählten Beispielen nach Wortfeldern, zum Beispiel zum Theater), ein Zeugnis von Stilübungen (ein Übersetzungsversuch einer Babrius-Fabel vom Griechischen ins Lateinische), Alphabete (oder die Versuche dazu – hier ist nun das Griechische der Papyris-Vorlage übernommen, also Α βη κη δη η εφ γη usw.) und transliterierte Texte (das liest sich dann so: Σι ομνης βιβεριντ, τεργε μενσαμ. – dazu kommt dann die deutsche Übersetzung des ‚lateinischen‘ Textes, dieser selbst nicht, also beispielsweise auch: er sieht – ουιδετ). Im letzten Teil des Buches werden zweisprachige Texte (wie in den Kolloquien, also Alltagsszenen und mythologische Text usw., aber auch Ausschnitte aus der Grammatik des Dositheus und Glossare) mit dem griechischen Original (also nicht, wie vorher, mit der deutschen Übersetzung) gegenübergestellt, am Ende sind noch, eingeleitet durch ein deutsches Beispiel (LEISERIESELTDERSCHNEE), Texte ohne Worttrennung geboten, die die Schwierigkeit der Scriptio continua erkennen lassen. Am Ende steht eine Übersicht über die antiken Texte zum Lateinlernen, aus der die hier vorgelegte Auswahl schöpft, sie ist chronologisch geordnet und reicht vom 1. bis zum 7. nachchristlichen Jahrhundert. Das Buch entspringt der vorzüglichen Idee, einen Blick auf das antike Lateinlernen in den griechischsprachigen Regionen des römischen Reichs zu werfen. Das kann in vielen Zusammenhängen anregend und hilfreich sein: Es lässt die Bedeutung des Lateinischen als Sprache eines gewaltigen Raumes erkennen, der weite Teile Europas, Afrikas und Asiens umfasst, es bietet eine kommentierte Quellensammlung zu einem wenig beachteten Bereich antiker Bildungs- und Schulgeschichte, es lenkt wiederum den Blick auf die Mehrsprachigkeit und damit die ethnische und kulturelle Diversität des römischen Reichs, es ermöglicht Einblicke in die antike Didaktik(in der offenbar der Sprachvergleich ein wesentliches Moment war) und regt ein grundsätzliches Nachdenken über die gegenwärtige an, es ergänzt die immer wichtiger werdende (kritische!) Lehrbuchforschung sozusagen nach vorne und macht ganz nonchalant die 2000-jährige Geschichte des Lateinunterrichts manifest, es bietet Anstöße zu Lehrbuchtexten gerade für die Anfangsphase, die so, also auf antiken Vorlagen fußend, etwas weniger anachronistisch geraten könnten. Dem dank zahlreicher Sponsoren (siehe S. 4 – unter ihnen der Schweizer Altphilologenverband) erfreulich preisgünstigen Buch sei eine zahlreiche Leserschaft gewünscht. Man wird es schwerlich ohne frappierende, horizonterweiternde oder schlichtweg amüsante Erkenntnisse und Einsichten über das Lateinlernen und ‑lehren aus der Hand legen.

Stefan Freund
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