Neuerscheinung des Monats

Spielhofer, L., Babrios. Ein Interpretationskommentar zu den Prologen und Fabeln 1 bis 17. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023. Hermes Einzelschrift Bd. 125. EUR 66,- (ISBN 978-3-515-13515-3).                                 

Die Forschung rechnet den Fabeldichter Babrios üblicherweise nicht zu den Autoren der traditionellen antiken Literatur, er gehört damit auch nicht zum Kanon der Schriftsteller, die in Schule und Universität gelesen werden. Albrecht Dihle nennt in seinem Überblickswerk (Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967) diesen Dichter mit keinem Wort, dagegen erwähnt Martin Hose ihn in seiner Literaturgeschichte mit einigen Sätzen (Ders., Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike. C. H. Beck Verlag: 1999, 164-165) und schneidet Detailfragen an, mit denen sich die heutige Forschung beschäftigt. Der Münchner Klassische Philologe Niklas Holzberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Fabeldichter Babrios den ihm zustehenden Platz einzuräumen. Er beklagt in der Einführung zu seiner zweisprachigen Ausgabe des Babrios (Ders., Babrios, Fabeln. Griechisch-deutsch. De Gruyter, Sammlung Tusculum: Berlin/Boston 2019, 9-47) mit voller Berechtigung die Geringschätzung dieses Dichters seitens der Gräzistik: „In der gesamten Weltliteratur dürfte es keinen Autor von hohem künstlerischem Rang geben, der von der zuständigen Wissenschaft (…) so hartnäckig vernachlässigt (ja im Grunde ignoriert) wurde wie der besonders durch sein Erzähltalent und seinen skurrilen Witz faszinierende Fabeldichter Babrios“ (Holzberg, 9). Lukas Spielhofer (S.) unternimmt es in seiner Grazer Dissertation mit großem Engagement, zentrale Fragen der Babriosforschung aufzugreifen und den Diskurs zu beleben. Er bereitet den ausführlichen Kommentarteil systematisch vor, denn vor der Interpretation der beiden Prologe und der ausgewählten Fabeln ist es von entscheidender Bedeutung, grundlegende Fragen zu klären, damit die Leserinnen und Leser die Überlegungen des Interpreten nachvollziehen können.

Bereits in der Einleitung (1. Kapitel, 9-11) schneidet S. einige wichtige Einzelheiten an; so weist er daraufhin, dass die Erstausgabe der Mythiamboi, eine Sammlung griechischer Versfabeln, 1844 in Paris publiziert wurde. Er beklagt ebenso wie der bereits erwähnte Niklas Holzberg, dass die Fabeln des Babrios in den letzten 180 Jahren kaum beachtet wurden. Die Lage bei einem anderen bedeutenden Fabeldichter, nämlich dem Römer Phaedrus, ist da deutlich günstiger einzuschätzen, nicht zuletzt aufgrund intensiver Forschungen von Ursula Gärtner. Inzwischen liegen von ihr zu den ersten drei Büchern der Phaedrusfabeln Interpretationskommentare vor. Im zweiten Kapitel liefert S. interessante Informationen über den Dichter, sein Werk und die Überlieferung (12-36). Da wir über Babrios fast nichts wissen, stellt S. zu Beginn des Kapitels folgendes lapidar fest: „Dem Autor der Babriosfabeln ein eigenes Kapitel zu widmen, stellt ein kühnes, ja fast hoffnungsloses Unterfangen dar. Wir haben es im Falle der Fabelsammlung im wahrsten Sinne mit einem auteur mort nach Roland Barthes zu tun“ (12). Insofern ist es auch sehr schwierig, das Werk und seinen Autor genau zu datieren. Die Vorschläge bieten einen zeitlichen Rahmen vom dritten vor- bis in das dritte nachchristliche Jahrhundert (12). Die Widmungen in den beiden Prologen helfen nicht weiter; im ersten Prolog spricht der Erzähler eine Person an, die sich historisch nicht einordnen lässt: ὦ Βράγχε τέκνον, im zweiten wendet er sich an einen gewissen Alexander: βασιλεὺς Άλέξανδρος. Auch dieser ist historisch nicht fassbar. Eine Mehrheit der Forscherinnen und Forscher setzt die Publikation der Sammlung auf das erste bzw. zweite Jahrhundert n. Chr. an, einige plädieren für das dritte Jahrhundert und vermuten die Zeit der Severer (12/13). S. hat natürlich auch einen Blick auf die antiken Quellen geworfen; in einem Brief des Kaisers Julian aus dem Jahr 362 werden die Fabeln des Babrios zum ersten Mal genannt, ebenso in der Praefatio zur Fabelsammlung Avians (um 400 n. Chr.). S. führt weitere Textzeugen an, die aber alle keine genaue Datierung zulassen. Daher liegt es nahe, sprachliche und stilistische Eigenheiten der Texte des Fabeldichters zu prüfen. Einige Anhaltspunkte sprechen für eine Einordnung in die Kaiserzeit, und zwar in die Zeit der Zweiten Sophistik. Babrios bedient sich der Koine „mit ionischen Einflüssen“, daneben lassen sich nachklassische Phänomene sowie die Verwendung von Neologismen beobachten. Letztendlich glaubt S. an eine Entstehungszeit, die im zweiten, eher noch in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts anzusetzen ist (15). Auch aus den Fabeln selbst können keine gesicherten Fakten bezüglich der genauen Lebenszeit des Dichters erschlossen werden. Ebenfalls über das Einflussgebiet des Fabeldichters können nur Vermutungen angestellt werden; manches spricht für das Gebiet des heutigen Syrien, zumindest für das östliche Mittelmeergebiet (18). S. hat die vorhandenen Angaben genau geprüft und möchte sich nicht an Spekulationen beteiligen.

Im ersten Unterabschnitt von Kapitel zwei erläutert er den Überlieferungsstand der Mythiamboi (18-27), vergleicht sie mit anderen antiken Sammlungen und geht auch auf die Frage ein, ob die Epimythien, die sich nicht bei allen überlieferten 144 Fabeln finden, ursprünglich vom Autor verfasst wurden oder eher als Nachtrag anzusehen sind, denn für das Verständnis sind sie meist unwichtig oder widersprechen sogar dem Inhalt der Fabeln (22). S. erinnert daran, dass Forscher wie Ben Edwin Perry, John Vaio, Antonio La Penna und Maria Jagoda Luzzatto wichtige Beiträge im Zusammenhang mit der Textkritik, der Übersetzung und der Klärung weiterer Details geleistet haben (24). Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang die sehr ausführliche und instruktive Einleitung, die Niklas Holzberg seiner zweisprachigen Babriosausgabe vorgeschaltet hat (s.o.). S. möchte mit seiner Studie ein Desiderat beseitigen, denn aktuell fehlt ein Gesamtkommentar zu den Fabeln des Babrios, auch die Poetologie dieser Texte ist noch nicht genau analysiert. Im nächsten Unterabschnitt von Kapitel zwei stellt S. den literarischen Kontext vor (27-36) und klärt zunächst die Frage, warum die Fabeln des Babrios „überhaupt unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht“ werden sollen (27). Moderne Analysen belegen nach Ansicht von S., dass die Versfabeln in einer beachtlichen Tradition stehen und „literarische Ansprüche erheben“ (27). Auf einige Besonderheiten der Fabeln des Babrios macht er aufmerksam; so beruft sich der Fabeldichter zwar auf die äsopische Fabeldichtung, greift aber auf nichtgriechische Traditionen zurück und bedient sich anderer literarischer Gattungen, so dass komplett neue Fabeln entstehen (28). Auffallend ist der Gebrauch des Choliambus, die Babrios in seinen Fabeln verwendet. Damit steht er in der Tradition der Spottdichtung, etwa in der von Hipponax (6. Jahrhundert v. Chr.) oder auch schon von Archilochos (7. Jahrhundert v. Chr.).

Im dritten Kapitel: Die Sammlung – Aufbau und Struktur (37-50) geht S. auf die Anordnung der Fabeln ein und tendiert dazu, die weitgehend alphabetisch orientierte Grundstruktur als vom Autor intendiert anzunehmen. Vor allem die Annahme, „dass sich das literarische Spiel des Autors mit dem didaktischen und enzyklopädischen Anspruch, den ein antikes Publikum in der Zeit der Zweiten Sophistik an eine Fabelsammlung gestellt haben dürfte, in der Struktur des Fabelbuchs widerspiegelt, würde eine verlockende Erklärung darstellen“ (41). Details zum Gedichtbuch (41-49) bietet S., um anschließend seine Schlussfolgerungen vorzustellen (49-50).

S. entfaltet seine Überlegungen zum poetischen Programm im vierten Kapitel (51-71). Darin geht er zunächst auf den Dichter und sein Publikum (51-56), auf Vorbilder und Nachfolger (56-60), auf die Poetologische Bildsprache (60-69), um dann, auch wie in anderen Abschnitten, seine Beobachtungen zusammenzufassen (70-71). Einige wenige Details aus diesem Kapitel seien kurz genannt, da sie dazu dienen, die im Kommentar präsentierten Analysen besser einordnen zu können. Wenn S. vom Dichter Babrios spricht, dann meint er den „diegetischen Erzähler bzw. das Ich“ (51), das vor allem in den beiden Prologen sichtbar wird. Am Anfang des zweiten Prologs liefert das Ich eine knappe Geschichte der antiken Fabel, Aesop stehe in einer langen Tradition, die auch Vertreter nichtgriechischer Provenienz kennt, ja das Ich führt sogar einen syrischen Fabeldichter an, der zur Zeit des Ninos und des Belos lebte (V. 2/3). Babrios postuliert einen Originalitätsanspruch, denn er habe zwei Gattungen, die Fabel (μῦθος) und den Iambos (ἴαμβος), miteinander verbunden und damit einen neuen Fabeltypus geschaffen, nämlich: die Mythiamben (58). Die Leserinnen und Leser sind bei der Lektüre der Fabeln gefordert, denn sie sollen die darin getroffenen Aussagen ständig evaluieren und „Behauptungen über Intention oder Eigenschaften des Werkes auf ihre Gültigkeit (…) überprüfen“ (60). Die Untersuchungen von S. ergeben, dass Babrios auf sprachliche Bilder zurückgreift, mit denen er Charakteristika seiner Fabeln beschreibt. Ein Bereich, auf den das Ich gerne rekurriert, ist die Sphäre von Flora und Fauna; die Biene spielt schon seit der frühgriechischen Dichtung eine entscheidende Rolle, wenn der poetische Schreibprozess des Dichters illustriert werden soll (Anm. 54, S. 61). Mit einem anderen Motiv wird die Leistung B. s als „zart bzw. fein“ (65) umschrieben. Ein weiterer Bereich der Sprache vermag die Arbeit des Fabeldichters als Handwerker darzustellen. Metaphern aus dem Umfeld der Metallverarbeitung gehen zum Beispiel auf Pindar zurück, der zur Exemplifizierung seines Dichterkönnens den Vergleich mit einem Handwerker nicht scheut, der Metall schleift oder seine Produkte mit Gold veredelt (Pind. O, 6,82 oder auch N. 4, 82-83a) (66). Das fünfte Kapitel steht im Zeichen Literarischer und narrativer Strategien (72-85). Bezüglich der Akteure greift Babrios auf ein großes Spektrum zurück, denn im Gegensatz zu manch populärer Meinung, in Fabeln spielten nur Tiere eine Rolle, findet man in seinem Werk auch Menschen, Figuren aus der Mythologie, Pflanzen und Gegenstände (72). Die Fabeln der Mythiamboi spielen sämtlich in der Goldenen Zeit; hier können alle Protagonisten miteinander in derselben Sprache kommunizieren. Besonders fällt die ausgeprägte Rhetorisierung der Fabeln des Babrios auf (75-76). S. konstatiert eine nicht zu übersehende Erzählfreude des Dichters und eine teilweise detailreiche Beschreibung von Personen oder Situationen (76). Sehr auffällig ist die sogenannte Dekonstruktion, die Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahren auch bei anderen Fabeldichtern beobachtet haben. Damit ist das Phänomen gemeint, dass die Erwartungen der Leserinnen und Leser systematisch enttäuscht werden, ja es gibt sogar Widersprüche zwischen den Teilen eines Werkes, in denen der Dichter sein poetisches Programm entfaltet, und den Realisierungen in den Fabeln, die dazu im Widerspruch stehen. Im Fall des Babrios kann festgestellt werden, dass der Dichter in den beiden Prologen Versprechungen macht, die er in den Fabeln nicht einhält. In einer übersichtlichen Tabelle hat S. Auffälligkeiten diesbezüglich dargestellt (80/81). Ein Beispiel mag dies belegen; im ersten Prolog spricht das Ich von einer Harmonie zwischen Menschen und Tieren, gleich in der ersten Fabel benutzt ein Jäger einen Pfeil, um Tiere zu töten.

Das zentrale sechste Kapitel enthält den Kommentarteil zu den beiden Prologen und den ersten 17 Fabeln (86-291). S. erläutert zunächst seine methodischen Überlegungen (86-87), um den Leserinnen und Lesern seine Vorgehensweise transparent zu machen. Die Abschnitte sind gut strukturiert und nach denselben Merkmalen aufgebaut; erst wird der griechische Text geboten, wobei neben den Versen Hinweise auf die benutzten Ausgaben geliefert werden. Dann folgt eine eigene Übersetzung des Autors, wobei er nicht auf die jüngst erschienene Übersetzung von Niklas Holzberg (s.o.) zurückgreift, sondern den Fokus auf einen bestimmten Aspekt richtet, nämlich darauf, „die ursprüngliche Textgestaltung möglichst genau wiederzugeben, weshalb auf stilistische Anpassungen und Abweichungen vom Ursprungstext großteils verzichtet wurde“ (86). Daran schließen sich jeweils ein Abschnitt über die Gliederung der Fabel, der Kommentarteil/Analyse, Hinweise auf Parallelen und eine Gesamtbetrachtung an.

Besonders problematisch ist die Interpretation des ersten Prologs, vor allem, weil es stark voneinander abweichende Überlieferungen gibt (95). Zahlreiche Forscherinnen und Forscher haben sich mit diesem Text intensiv auseinandergesetzt, auf deren Ergebnisse S. zurückgreifen konnte. Sehr lesenswert und kenntnisreich ist der Abschnitt: Analyse (94-105). Auf Details kann ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen, empfehle aber nachdrücklich die Lektüre. Aus schulischer Sicht ist der Prolog schon deshalb von großem Interesse, da in ihm der Weltaltermythos geschildert wird. Man kann diese Variante gut mit den bekannten Darstellungen zum Beispiel von Hesiod, Ovid oder auch Kallimachos vergleichen, auf dessen Iamboi Babrios zurückgreifen konnte. S. arbeitet die Parallelen zwischen den beiden Fassungen von Kallimachos und Babrios gut strukturiert heraus (105-107).

Dass eine Interdependenz zwischen dem ersten Prolog und der Fabel Nr.1 existiert präpariert S. nachvollziehbar heraus. Erwartungen, die im Prolog geweckt wurden, werden mehrmals enttäuscht oder sogar ins Gegenteil gewendet. Da im Eingangstext epische Elemente vorhanden sind, könnte der Leser/die Leserin darauf hoffen, dass es in der ersten Fabel um eine wichtige Schlacht geht. Doch der Löwe ergreift die Flucht und begegnet dem Fuchs. Babrios bedient sich bei der Schilderung eindeutig homerischer Wendungen; als Beispiel lässt sich die Verknüpfung von προκαλέομαι (Babr. 1, V. 4) mit dem Verb μάχεσθαι (Babr. 1, V. 5) anführen; in Versen des Homer finden sich dieselben Kombinationen (Hom. Il, 3-432-433; 7,39-40, Anm. 226, S. 126). Während in anderen antiken Texten der Löwe „Tapferkeit, Stärke und Mut“ symbolisiert (126) und von den Dichtern gerne in epischen Vergleichen eingesetzt wird, enttäuscht bei Babrios der Löwe die Leserinnen und Leser und flieht. Eine andere Täuschung besteht darin, dass die Beschreibung des Goldenen Zeitalters die Erwartung evoziert, in den folgenden Fabeln herrsche eine ähnliche Situation vor. Bereits in der ersten Fabel wird dieses Wunschdenken konterkariert, denn es herrscht Gewalt zwischen Mensch und Tier, ja sogar unter den Tieren. Auf weitere Widersprüche, die S. beobachtet, gehe ich hier nicht ein (vgl. S. 134). Vergleichend arbeitet S. auch bei der Analyse und Interpretation der anderen Fabeln, wobei er immer wieder auf Querverbindungen aufmerksam macht. Zahlreiche Fabeln weisen gemeinsame Elemente und Vor- bzw. Rückverweise auf, so dass die Annahme berechtigt erscheint, dass die vorliegende Sammlung so auch vom Autor intendiert war.

S. erhebt keinen Anspruch darauf, seine Resultate uneingeschränkt auf die anderen Fabeln zu übertragen, sondern empfiehlt weitere Studien, die das Gesamtwerk des Babrios in den Blick nehmen könnten.

Das achte Kapitel beinhaltet Verzeichnisse (294-310) mit Abkürzungen, Hinweise auf Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen der Mythiamboi sowie Textausgaben antiker Autoren und Werke, ein Tabellenverzeichnis und die Sekundärliteratur. Den Abschluss bildet das Register (311-335) mit dem Stellenregister und dem Personen-, Orts- und Sachregister.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass S. eine vorzügliche Studie zum Werk des Fabeldichters Babrios vorgelegt hat, denn er bringt den wissenschaftlichen Diskurs voran, offeriert den griechischen Text samt eigener Übersetzung, legt gut nachvollziehbare Interpretationen vor, geht auf zentrale Fragen der Babriosforschung ein und erarbeitet neue Einsichten bezüglich der Struktur der Fabeln, ihrer literarischen Architektur und Poetologie. Mit seinem Opus hat S. eine solide Basis für eine moderne literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung der Mythiamboi geschaffen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

Kirchner, R., (2022), Protreptik und Rhetorik. Werbung für die Beredsamkeit in der römischen Literatur. Franz Steiner Verlag: Stuttgart. 249 S. EUR 50,- (ISBN 978-3-515-13291-6).

Die vorliegende Studie ist eine Habilitationsschrift, die 2020 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen wurde. In der Einleitung (11-12) stellt Roderich Kirchner (K.) klar, dass die antike Rhetorik Teil des Erziehungswesens der Antike war. Bereits in der ersten Anmerkung verweist K. auf wichtige Literatur zum Thema (etwa: J. Christes/R. Klein/ Chr. Lüth (Hrsgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike. Darmstadt 2006 und natürlich der Klassiker: H. – I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, hrsg. von R. Harder. Freiburg/München 1957). Als Ziel seiner Untersuchung gibt K. an, „die jeweiligen literarischen Motive und Formen der Werbung für die Beredsamkeit und für den Unterricht in der Rhetorik in der römischen Literatur zu beschreiben“ (12). Im ersten Kapitel erläutert K. den Begriff Protreptik, geht auf Motive und ihre Entstehung ein (13-36). Im Vordergrund der „sachlichen Grundlagen“ stehen griechische Autoren, vor allem Isokrates; die Vertreter der griechischen Rhetorik setzten sich mit den Sophisten und den Philosophen auseinander und bildeten protreptische Motive und Formen heraus (12). Wie am Ende aller Kapitel bietet K. auch hier eine Zusammenfassung (36). Auf der Basis dieser Analysen beschreibt K. im zweiten Kapitel (37-47) die Wege der Protreptik für die Rhetorik von Athen nach Rom. Dabei spielen Cato der Ältere und Cicero, aber auch Seneca der Ältere eine entscheidende Rolle. Der Verfasser widmet Cato dem Älteren ein eigenes Kapitel (Kapitel drei) und präsentiert ihn als Redner und Vorbild (48-62). Dann folgt das zentrale vierte Kapitel: Cicero (63-195). Im fünften Kapitel untersucht K. die Bedeutung Senecas des Älteren im Rahmen seiner Fragestellung (196-218). Im sechsten Kapitel stellt K. die erarbeiteten Ergebnisse vor (219-224), im siebten Kapitel finden die Leserinnen und Leser ein umfangreiches Literaturverzeichnis (225-235). Das Register mit dem Index locorum und den Stichwörtern bildet den Abschluss des Buches (237-249).

Das erste Kapitel beginnt K. mit einer Definition des zentralen Begriffs seines Buches: „Unter Protreptik versteht man in der modernen Forschung die Werbung für einen bestimmten Unterricht, für einen bestimmten Lehrer und um einen bestimmten Schüler“ (13). Eine solche Werbung geht einher mit verschiedenen protreptischen Motiven, vor allem mit dem „Motiv der Gabe, dem Lob der Redekunst, der Aufforderung zu Anstrengung und Übung, der Warnung vor dem Scheitern und dem Versprechen von Ruhm“ (220). Abgegrenzt wird die Protreptik von der Paränese, die verstanden werden kann als „die Aufforderung und Ermahnung, sich an bestimmte Regeln für die richtige Gestaltung des Lebens bzw. eines Lebensbereiches zu halten, und zugleich die Präsentation wichtiger Regeln“ (18). Als Paradebeispiele für paränetische Reden können Isokrates‘ Reden An Nikokles (Isoc. 2) und Nikokles oder An die Kyprier (Isoc. 3) genannt werden (18). Auf der Grundlage dieser Begriffsbestimmungen ist es K. möglich, systematisch seine Themenbereiche durchzuarbeiten.

Im zweiten Kapitel legt K. sein vertieftes Verständnis von dem vor, was er mit seiner Publikation untersuchen möchte, nämlich die Protreptik für die Rhetorik in Rom von den Anfängen bis zum Älteren Seneca.

Der erste römische Protagonist steht im dritten Kapitel im Vordergrund: Cato der Ältere. K. wählt dessen Werke aus zwei Gründen für seine Studie aus; einerseits könnte er als „Vorbild und Lehrer der Beredsamkeit“ gelten, andererseits wendet er sich an seinen Sohn mit dem deutlichen Ziel, ihn „zu erziehen und zu fördern“ (48). Damit steht er – wie auch Cicero und Seneca – in einem persönlichen Verhältnis zu einer ihm nahestehenden männlichen Person und setzt sich für den Erwerb rhetorischer Bildung ein. Hierbei rezipiert er bestimmte Schemata, die er direkt oder indirekt von dem griechischen Redelehrer Isokrates und dessen Nachfolgern entlehnt hat. In den folgenden Unterabschnitten analysiert K. näher das Bild Catos als Redner und Vorbild (49-51). Während es Cicero vergönnt war ungefähr 150 Reden Catos zu lesen (Brutus 65), können heutige Forscher nur um die 250 kleinere Fragmente aus 79 Reden studieren (49, Anm. 6). Der augusteische Historiker Livius bezeichnete Cato als eloquentissimus (Liv. 39, 40,4-8), demgegenüber entschied sich Nepos in seiner Kurzbiographie für eine andere Beurteilung: probabilis orator (Nep. Cat., 3,2). Quintilian lobt in seiner berühmten Institutio oratoria Cato als in dicendo praestantissimus (Quint. inst. 12, 3, 9 und 2, 5, 21), warnt aber ausdrücklich davor, „sich die Schroffheit Catos und der Gracchen zum Vorbild zu nehmen“ (49). Erwiesen ist, dass Cato sich intensiv mit der griechischen Literatur befasst hat – ein Faktum, das lange bestritten wurde. Dietmar Kienast hat in seiner bahnbrechenden Dissertation (Cato der Zensor. Seine Persönlichkeit und seine Zeit. Mit einem kritisch durchgesehenen Neuabdruck der Redefragmente Catos. Quelle und Meyer. Heidelberg 1954) dieses Vorurteil widerlegt, die bis dahin sehr einseitige Sichtweise zurechtgerückt und weitere Vorurteile über diesen römischen Feldherrn, Schriftsteller und Staatsmann relativiert. Dieses Publikation lässt K. leider unberücksichtigt, ebenso wie eine weitere sehr lesenswerte Studie von Michael von Albrecht: „Der Anfang der literarischen Prosa: M. Porcius Cato (234 – 149 v. Chr.)“ (in: Ders., Meister römischer Prosa von Cato bis Apuleius. Lothar Striehm Verlag: Heidelberg 1971, 15-50). Darin interpretiert der Autor einfühlsam und subtil die Vorrede zum Werke Catos: De agricultura, die Rede im Senat für die Rhodier (167 v. Chr.) sowie einen Textabschnitt über Cato, in dem dieser mit Leonidas verglichen wird (M. von Albrecht, a.a.O., 38-50). Ansonsten hat K. auf wichtige Forschungsergebnisse zurückgegriffen. Auch der griechische Schriftsteller Plutarch hat sich mit Catos Leben und Werk befasst und ihn als römischen Demosthenes bezeichnet (Plut. Cat. Ma. 4, 1-2). In diesem Zusammenhang verwendet der in Chaironeia geborene Historiograph das Substantiv δεινότης und beschreibt damit „eine überragende Redegewalt und die Fähigkeit, sie richtig und angemessen zu gebrauchen“ (50). Insgesamt kommt K. zu der Erkenntnis, dass Catos Leistung protreptisch genannt werden kann, denn er hat bei den jungen Römern Erfolg mit seinen Reden und regt sie an, ihn nachzuahmen und unter einander in Wettstreit zu treten (51). In einem weiteren Unterabschnitt erläutert K. das Verhältnis von Cato zu Karneades (52-55), um sich dann zwei Schriften zuzuwenden, die dieser an seinen Sohn gerichtet hat (Ad filium; Epistula ad M. filium, 55-61). K. geht umsichtig mit der Quellenlage um, denn beide Schriften sind nur fragmentarisch überliefert; so gibt es für die erst genannte Schrift nur 16 Fragmente (55), die sich in den Werken verschiedener Autoren finden lassen. K. arbeitet heraus, dass Cato gewissermaßen in Konkurrenz zu Karneades tritt und Motive und Strukturen der Protreptik aufgreift (62). Cato wendet sich an seinen Sohn (wahrscheinlich ist der älteste Sohn gemeint: M. Porcius Cato Licinianus, 58), aber auch an eine breitere Öffentlichkeit und initiiert damit eine Haltung, die ihre Fortsetzung bei Cicero und Seneca dem Älteren findet.

Im vierten und umfangreichsten Kapitel über Cicero rückt K. verschiedene Schriften des größten römischen Redners in den Fokus (verschiedene Briefe, das Commentariolum petitionis, De oratore, und De officiis (63-195)). Aus Platzgründen möchte ich in gebotener Kürze zunächst auf K.‘ Ausführungen zur Schrift De oratore, dann zu denen zu De officiis eingehen. Zur ersten Abhandlung stellt K. fest, dass es sich hierbei nicht um eine protreptische Schrift handelt, sondern um eine solche, die aber „eine große Vielfalt von Elementen eindeutig protreptischer Natur“ zeigt (140). K. belegt seine Ergebnisse mit den Hinweisen darauf, dass die drei Bücher eine immense Größe des Stoffes aufweisen (maius-Motiv); des Weiteren seien die Adressaten nicht nur sein Bruder Quintus, sondern vor allem jüngere Schüler, „die eine andere und bessere Ausbildung als die, die von der konventionellen Rhetorik angeboten werde, verdienten“ (141). K. registriert einen protreptischen Rahmen, eingeleitet von der cohortatio des Crassus am Beginn der Schrift (de orat. 1, 30), beendet mit dem Schlussgespräch (de orat. 3, 230), wobei den Adepten nahegelegt wird, alle Kräfte anzuspannen und zu verhindern, dass der junge Redner Hortensius sie in den Schatten stellt (141). Die Besonderheit dieser Schrift liegt darin, dass die Schüler eine jeweils unterschiedliche Entscheidung treffen, denn Sulpicius favorisiert den „normalen Weg“, Cotta hingegen votiert für die Philosophie der Akademie (142). K. sieht in De oratore eine Werbung für Ciceros „Konzept der Aussöhnung von Rhetorik und Philosophie“ (142).

Aus der Perspektive K.‘s ist die literarische Form des Traktats De officiis einfacher als die im Falle von De oratore (159). In der erst genannten Schrift hat Cicero jedes der drei Bücher mit einem persönlichen Vorwort eingeleitet und lässt das Werk mit einem Epilog am Ende ausklingen (159). In diesen Rahmenabschnitten argumentiert Cicero in einer explizit protreptischen Art und Weise, während man in den verbleibenden Textstellen eine paränetische Strategie erkennen kann; K. sieht Bezüge zwischen der Struktur von De officiis mit der Rede des Isokrates An Nikokles (or.2), in dessen Rahmenteil der griechische Rhetoriker Werbung für sein Fach betreibt, während der Haupttext Empfehlungen allgemeiner Art vor allem für Politiker bzw. Herrscher aufweist (180). Der römische Redner hat bekanntlich De officiis in genauer Kenntnis der Vorlage des Panaitios verfasst, der sich zwar an junge Personen richtet, aber ausdrücklich keine Werbeschrift konzipieren wollte, weder für die Philosophie noch für die Rhetorik (194). Ciceros Spätschrift De officiis trägt demnach einen gewissen Widerspruch in sich, der nur unter der Annahme auflösbar erscheint, „dass der Rahmen mit seiner Ermunterung zu rhetorischen Studien in gewisser Weise über dem engen Inhalt der Bücher steht, ohne diese aufzuheben oder einzuschränken. So kann Cicero zugleich den möglichen Konflikt von De officiis mit seinen anderen philosophischen Schriften entschärfen“ (194/195).

Das fünfte Kapitel widmet K. dem römischen Rhetor und Schriftsteller L. Annaeus Seneca, genannt der Ältere – im Gegensatz zu seinem Sohn, Seneca der Jüngere. Zunächst untersucht K. die Schrift Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores (ca. 37. n. Chr.) auf seine Fragestellung. Darin finden sich Auszüge von Deklamationen, von Anekdoten und literarkritischen Beiträgen (196). Ebenso wie bereits Cato und Cicero sind die Adressaten Senecas die erwachsenen Söhne. Ausdrücklich beruft sich Seneca nicht auf Cicero, zitiert hingegen im Prooemium der ersten Controversia aus Catos Schrift Libri ad Marcum filium (197). Die Adressaten der Controversiae sind keine Schüler oder Studenten der Rhetorik mehr. Sie befinden sich am Anfang ihrer Karriere als Anwälte oder Politiker. K. bietet Informationen über die drei Söhne Senecas: L. Iunius Annaeus Novatus, L. Annaeus Seneca und Annaeus Mela. Auch wenn sich Seneca der Jüngere von der Philosophie begeistern lässt, bedeutet dies aber keine Abwendung von der Rhetorik. Es lässt sich bei Seneca dem Älteren auch keine Konkurrenz zwischen Rhetorik und Philosophie konstatieren. K. prüft umsichtig, wieweit Seneca protreptische Motive verwendet. Als erstes nennt er das Motiv des audire velle, d. h. die Söhne zeigen großes Interesse, die Sententiae der Deklamationen zu hören (200). Auch das maius-Motiv erkennt K. im Werk Senecas, da dieser die Beredsamkeit als hochheilig bezeichnet (sacerrima eloquentia, 203). Ein zentrales pädagogisches Anliegen Senecas ist darin zu sehen zu erreichen, dass sich die Söhne ein Urteil bilden können über die Disziplinen, in denen sie unterrichtet werden (iudicium). Wichtig ist ihm, dass seine Söhne nicht nur ein einziges Vorbild nachahmen, sondern mehrere Ideale anerkennen sollen (Sen. contr. 1, pr. 6, in Anlehnung an Ciceros gleichartige Auffassung (Cic. inv. 2, 1-5): facitis autem, iuvenes mei, rem necessariam et utilem quod non contenti exemplis saeculi vestri priores quoque vultis cognosere; primum quia, quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur, non est unus, quamvis praecipuus sit, imitandus, quia numquam par fit imitator auctori). Die Rhetorenschulen zur Zeit Senecas bieten eine Ausbildung in verschiedenen Fachgebieten, etwa in der Beredsamkeit (211-212), in der Philosophie (212-213), in der Geschichtsschreibung (214-215) und in der Poesie (216-217). Senecas Ausführungen können als Werbung begriffen werden, obwohl er für keines der angegebenen Disziplinen eine Präferenz zeigt und den Adressaten eine freie Entscheidung einräumt (218).

Insgesamt legt K. mit seiner Studie ein wertvolles Buch vor, das die Forschung entscheidend voranbringt. Dabei verfolgt er stringent seine anvisierten Ziele, legt ein wohlüberlegtes und gut nachvollziehbares Analyseraster vor, verwendet wichtige Forschungsliteratur zum Thema (vgl. aber die Bemerkungen zu Cato), bedient sich eines flüssigen Stils und verlegt lateinische Zitate oft in die Anmerkungen, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

Tief betroffen mussten wir erfahren, dass der Verfasser der hier vorgestellten Neuerscheinung des Monats Februar 2024 in eben diesem Monat verstorben ist.

Dominic Bärsch, Mundus ecce nutat et labitur. Weltuntergangskonzepte in der griechischen und lateinischen Literatur, Göttingen (Vandenhoeck & Rupprecht) 2023, Hypomnemata 218. ISBN 978-3-525-30221-7

Ein Jahreswechsel ist Anlass, über den Wandel der Zeitläufte und damit letztlich auch ihr Ende nachzudenken – so möge es verstanden werden, wenn hier eine Studie über antike Weltuntergangskonzepte zur Vorstellung gelangt. Zunächst wirft der Verfasser, unabdingbar in einer Dissertation, aber doch gedanklich anregend, die grundsätzlichen Fragen auf, wie Vorstellungen eines Weltuntergangs überhaupt begründet, unter Rückgriff auf Metaphern formuliert und vermittelt werden. Der inhaltlich orientierte Durchgang ist dann recht pragmatisch, tendenziell chronologisch strukturiert und beginnt natürlich im griechischen Denken: Zunächst ist da das Konzept der großen Flut, zweitens über Vergehen und Wiedererstehen der Welt. Dann wechselt die Perspektive auf Rom – hier nun eher historisch: Der Verfasser stellt dar, wie sich in der ausgehenden Republik Lukrez und Cicero das Ende der Welt vorstellen. Das mit 90 Seiten ausführlichste Einzelkapitel gilt der augusteischen und frühkaiserzeitlichen Literatur: Hier werden Ewigkeitskonzepte neben Flut, Weltenbrand und Chaos gestellt. Ein letztes Kapitel gilt der jüdisch-christlichen Literatur: Neben dem Jüngsten Tag kommen auch hier Flut, Weltenbrand und die Vorstellung vom Altern der Welt zum Tragen. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Studie, nicht um ein Sachbuch, das in erster Linie sein Publikum in den Bann schlagen soll. Und doch ist der mutig weite und dabei geglückte Umgriff – was das Thema, aber auch, was das Textcorpus angeht, das von Homer bis in die jüdisch-christliche (Spät-)Antike reicht. Es zeigt sich: So unterschiedlich Kontext (Mythologie, Naturphilosophie, Dichtung, jüdisch-christliche Apokalyptik usw.) und Komplexität in der Ausarbeitung der vorgestellten Weltuntergangskonzepte auch sind (dieser Faktoren ist sich der Verfasser wohltuend bewusst) – beeindruckend klar werden Bedeutung, Präsenz und Facettenreichtum der Vorstellung von einer globalen Katastrophe durch Feuer oder durch Flut in der Antike. – Das regt am Ende eines Jahres, das von Hitze- und Dürrerekorden geprägt war, und an einem Jahreswechsel mit weitreichenden Überflutungen durchaus zum Nachdenken an: Natürlich weiß die Antike nichts von einem anthropogenen Klimawandel und erhebt keine empirisch-naturwissenschaftlichen Daten. Aber sie reflektiert die existentielle Gefährdung durch Feuer und Flut und berücksichtigt sie nach den Maßgaben ihres Denkens in ihren mythologischen, philosophischen und literarischen Weltkonzepten. Welcher Impuls kann davon für eine Gegenwart ausgehen, der nach den Maßgaben ihres Denkens die Möglichkeit empirisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der politisch-ökonomischen Umsetzung zu Gebote stehen?

Stefan Freund

Susan Stokes-Chapman, Das Erbe der Pandora Blake, aus dem britischen Englisch von Elisabeth Maler, München 2023, ISBN 978-3423283496, € 23,00

bzw. die gelesene Version: Susan Stokes-Chapman, Pandora, London 2023, ISBN‎ 978-1529114744, 11,50 €

Wir befinden uns in London im Jahr 1799: Die 21-jährige (Pan)Dora Blake führt mit ihrem Onkel Hezekiah das Antiquitätengeschäft ihrer verstorbenen Eltern, die sich ihrer Zeit insbesondere mit (früh)griechischen Gütern beschäftigten. Leider hat Hezekiah das Geschäft heruntergewirtschaftet, weswegen Dora sich erträumt, als Goldschmiedin eigenständig leben zu können, um ihrem Vormund zu entgehen. Eines Tages, als ebenjenem ein mysteriöser griechischer Pithos geliefert wird, den er sofort in die ihr verschlossenen Kellerräume bringen lässt, muss Dora feststellen, dass die Vergangenheit dunklere Geheimnisse birgt als erwartet. Um ihre Neugier zu stillen und ihrem Onkel auf die Schliche zu kommen, verbündet sich Dora mit dem Buchbinder und angehenden Archäologen Edward, woraus sich ein geheimnisumwobenes Abenteuer entwickelt.

Unbemerkt wird der Lesende in den Bann gezogen, während die Geschichte, die aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, langsam aber sicher an Fahrt aufnimmt. Auf 448 Seiten entfaltet sich in elegantem und kunstvollem Schreibstil, der das Herz eines Philologen zum Höherschlagen bringt, die historische Fiktion rund um das Georgianische Zeitalter, das mit Magie und Mythos der Antike verstrickt wird. Während sich die Romanze und ein Teil der Geschichte zwar vorhersehbar entwickeln, liegt der Reiz des Buches im Detail: Das Lesen und es zu genießen, ist das Ziel. Es zaubert einem unwillkürlich ein Lächeln auf die Lippen, wenn die Charaktere Namen wie Horatio oder Hermes tragen, wenn das griechische Alphabet im Kopf aufgesagt wird, um sich zu beruhigen, wenn ganz nebenbei das Wissen rund um weißgrundige Vasenmalerei aufgefrischt wird oder wenn der Übersetzungsfehler „eines niederländischen Philosophen“ (von πίθος = Krug zu πυξίς = Büchse) eine wichtige Rolle für die Aufklärung einiger Rätsel spielt.

Es handelt sich also bei diesem Werk nicht um eine Reinterpretation, wie es sie im Moment vermehrt zu entdecken gibt, sondern um eine Weitererzählung des altbekannten Mythos. Interessant ist dieser gelungene Debüt-Roman also für alle, die historische Fiktion aus der Zeit Napoleons, verwoben mit antikem Mythos, begeistern kann.

Anna Stöcker, Bergische Universität Wuppertal

Jehne, M., (2022), Ausgewählte Schriften zur römischen Republik. Hrsg. von B. Linke, Chr. Lundgreen, R. Pfeilschifter und C. Tiersch. Franz Steiner Verlag: Stuttgart. 373 S. 72. EUR (ISBN 978-3-515-13298-5).

Es ist eine schöne Geste, wenn ehemalige Schülerinnen/Schüler für ihre akademische Lehrerin/ihren akademischen Lehrer eine Festschrift oder ein Buch mit ausgewählten Aufsätzen der/des zu Ehrenden publizieren. Im vorliegenden Fall haben sich gleich vier Forscherinnen/Forscher der arbeitsreichen Mühe unterzogen, zwölf Aufsätze von Martin Jehne herauszusuchen und zu veröffentlichen, die er im Zeitraum von 1993 und 2004 verfasst hat. Alle vier Forscher und Forscherinnen haben am Lehrstuhl von Martin Jehne an der Universität Dresden gelehrt und geforscht. Sie haben sich für vier Rubriken entschieden, wobei die Aufsätze nach Inhalten angeordnet sind, nicht nach ihrem jeweiligen Erscheinungsjahr. Die Rubriken sind: Das Volk und seine Versammlungen (11-85), Die Elite, das Volk und ihre Kommunikation (89-171), Rom, Italien und das Imperium (175-265) und: Von der Republik zum Prinzipat (269-352). Daran schließen sich eine Liste mit den Erstveröffentlichungen (353-354), dem Stellenregister (355-367) und dem Personenregister (369-373) an. Das Buch weist eine Besonderheit auf, die für die Leser und Leserinnen von großem Nutzen ist: Zu jeder Rubrik haben die jeweiligen Bearbeiterinnen/Bearbeiter einen Kommentar verfasst, mit dem sie laut Vorwort „keine Würdigung des gesamten wissenschaftlichen Schaffens von Jehne anstreben. Das hat vor kurzem schon Hartmut Leppin in der Laudatio des 2019 verliehenen Karl-Christ-Preises getan“ (8). Sie haben sich vielmehr jeweils für einen Ausschnitt aus dem Werk und dem Wirken von Jehne entschieden und sich zum Ziel gesetzt, „Jehnes grundlegende Erkenntnisse zur politischen Kultur der römischen Republik und seine Meisterschaft“ zu kommentieren, „aus kleinen Episoden große Strukturen neu zu denken“ (8).

Für eine andere Variante, die auch lobenswert ist, haben sich die Herausgeber und Herausgeberinnen der „Entretiens sur l’Antiquité classique“, publiziert von der Fondation Hardt in Vandoeuvres/Schweiz, entschieden. Dabei wird nach jedem Aufsatz/Vortrag die sich daran anschließende Diskussion abgedruckt. Zuletzt ist der Band 67 erschienen, hrsg. von V. Fromentin, Écrire l’histoire de son temps, de Thucydide à Ammien Marcellin (2021), Vandoeuvres 2022.

Natürlich können im Rahmen dieser Buchvorstellung nicht alle zwölf Aufsätze vorgestellt werden, ich möchte aber zumindest alle Titel anführen und auf einige näher eingehen. Ich beginne mit dem ersten Block, für den Bernhard Linke, Professor für Alte Geschichte an der Universität Bochum, drei Aufsätze ausgesucht und anschließend kommentiert hat, die die Rolle des Volkes in den Versammlungen thematisieren. Der Titel des ersten Aufsatzes lautet: Geheime Abstimmung und Bindungswesen in der Römischen Republik (11-26). Cicero beschwert sich in mehreren Schriften über die Einführung der geheimen Abstimmung in den römischen Volksversammlungen (z. B. Cic. leg. 3,34). Jahrhundertelang war es in der Zeit der römischen Republik üblich, dass die Abstimmung offen durchgeführt wurde. Ab 139 v. Chr. wurde schrittweise in den einzelnen Gremien die geheime Abstimmung eingeführt. Aus heutiger Sicht ist dies selbstverständlich. Die Forschung hat sich lange an der Kritik Ciceros orientiert, aber es gab auch andere Stimmen; Jehne hat sich dazu dezidiert geäußert und Verständnis gezeigt. Schaut man auf das Verhältnis zwischen patronus und cliens, so konnte bei einem offenen Abstimmungsverfahren der cliens sein Eintreten für den patronus transparent darlegen und zeigen, wen er unterstützte. Als aber das römische Reich immer komplexer wurde, unterhielten viele Adlige verschiedene Beziehungen, so dass es nicht sinnvoll war, die Abstimmung weiter offen durchzuführen. Jehne bringt es auf den Punkt: „Dieser Überlagerungsprozess hatte aber zur Folge, dass es immer häufiger vorgekommen sein muss, dass Römer Bindungen zu Exponenten gegenläufiger Entscheidungsempfehlungen unterhielten. Besonders virulent wurde dieses Problem zweifellos bei den Wahlen.“ (20) Jehne erläutert das Problem der veränderten Lage der Wahlen zum Konsulat, bei denen im zweiten Jahrhundert v. Chr. teilweise sieben Kandidaten miteinander konkurrierten (21). Durch die Mehrfachbindung an Angehörige der Oberschicht konnte es für manche Wähler sehr schwierig werden, ihre Loyalität zu bekunden. „Die Betroffenen gerieten in Loyalitätskonflikte, bei denen die Entscheidung für zwei Kandidaten einen anderen verprellte“ (22). Jehne belegt seine Analysen mit dem jeweils aktuellen Forschungsstand und unter Rückgriff auf die antiken Quellen. In klarer Diktion beschreibt er seinen Argumentationsgang, der für die Leserinnen/Leser gut nachvollziehbar ist. Im Kommentarteil ordnet B. Linke Jehnes Ausführungen in einen größeren Zusammenhang, erläutert die methodischen Zugriffe und die Arbeitsweise Jehnes und berücksichtigt auch die inzwischen publizierten Forschungsergebnisse.

Ein Aspekt, der bereits im ersten Aufsatz kurz angesprochen wurde, steht im zweiten Beitrag im Vordergrund: Die Beeinflussung von Entscheidungen durch „Bestechung“: Zur Funktion des ambitus in der römischen Republik“ 27-52). Jehne stellt fest, dass das Phänomen der Bestechung (ambitus) spätestens seit dem zweiten Jahrhundert verstärkt auftrat, aber trotz gesetzlicher Vorgaben weiterhin Bestand hatte (28).

Der Titel des dritten Aufsatzes lautet: Das Volk als Institution und diskursive Bezugsgröße in der römischen Republik“ (53-75). Jehne untersucht zunächst die verschiedenen Bezeichnungen des Volkes (plebs, populus, res publica) und ihre „unterschiedliche Konnotationen im römischen Kontext“, danach die „institutionelle Rolle des Volkes, also letztlich die Volksversammlungen“, und die „Partizipationsfrequenz und -breite der Bürgerschaft und ihren direkten Einfluss auf die relevanten Entscheidungen“ (53). Er stellt auch die Frage, wer das Volk eigentlich war (62-65). Jehne geht im Abschnitt über den Volksdiskurs auch auf den wichtigen Wertbegriff auctoritas ein (65-69), um am Ende seines Beitrags ein instruktives Resümee zu bieten (69-72). Wer sich intensiver mit der Thematik befassen möchte, kann auf die umfangreichen Literaturangaben zurückgreifen (72-75). Im Kommentarteil werden noch einmal wichtige Aspekte aufgegriffen und erläutert, darüber hinaus erfahren die Leserinnen und Leser einige Details über Jehnes Arbeitsweise. Linke verweist zum Beispiel auf die große Bedeutung eines Sonderforschungsbereich der Uni Dresden, die Jehne maßgeblich mitgestaltet hat: „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (84). Wenn Jehne etwa nachvollziehen kann, dass ab 139 v. Chr. die geheime Wahl der Amtsträger vonstattenging, könnte man dies falsch verstehen; aber, Jehne ist überzeugter Demokrat, daher schreibt Linke mit voller Berechtigung: „Sein (Rez.; also Jehnes) Denken geht immer vom Bürger aus, der die Pflicht hat, sich in die Gesellschaft aktiv einzubringen, statt in akzeptierender Passivität zu verharren. In seiner eigenen Gegenwart tritt Martin Jehne vehement für seine Vision eines engagierten Bürgers ein, der sich nicht von politischen Inszenierungen blenden lässt, sondern durch eine aktive Rolle in der Gesellschaft seiner ‚bürgerlichen‘ Verantwortung gerecht wird“ (84). Wie wichtig ein solches Engagement sein kann zeigt aktuell die Diskussion über die Rolle einzelner Parteien in der Bundesrepublik Deutschland.

Im zweiten Block, für den Christoph Lundgreen verantwortlich ist, geht es um Die Elite, das Volk und ihre Kommunikation (89-171). Im Mittelpunkt des ersten Aufsatzes stehen die Begriffe „Jovialität und Freiheit“; der Untertitel lautet: Zur Institutionalität der Beziehungen zwischen Ober- und Unterschicht in der römischen Republik (89-112). Jehne beginnt seinen Aufsatz, der aus dem Jahr 2000 datiert, mit der Feststellung, dass die Geschichte der römischen Republik „eigentlich eine Erfolgsgeschichte“ ist. „In den knapp 500 Jahren dieser Organisationsweise wurde der gesamte Mittelmeerraum erobert, und territoriale Expansion wurde in der Antike ganz selbstverständlich positiv gesehen. Dass der Schlüssel für diese Erfolge in der römischen Verfassung zu suchen ist, hat schon Polybios mit Nachdruck vertreten“ (89). In der Forschung wurde mehrfach die Frage gestellt, warum das Volk über einen sehr langen Zeitraum den Adligen Folge leistete. Jehne hat einen Begriff eingeführt, der erklären kann, auf welche Weise der Adel mit dem Volk umgegangen ist: Jovialität ist der Schlüsselbegriff (96). Darunter versteht er „eine Form des Umgangs zwischen sozial Ungleichen (…), bei der der Mächtigere darauf verzichtet, seine Dominanz auszuspielen, und sich stattdessen so gibt, als befinde er sich auf der gleichen Stufe wie sein Gegenüber. Dabei wissen beide Seiten um die soziale Asymmetrie in der Beziehung. Die Wirkung besteht nicht darin, dieses Wissen generell aufzuheben, sondern darin, die aktuelle Präsenz dieses Wissens in der jeweiligen konkreten Situation zu vermindern“ (96/97). Zum besseren Verständnis erläutert Jehne den Bedeutungsbereich des Adjektivs jovialis (97). Eng damit verbunden sind zwei weitere Begriffe, nämlich comitas und civilitas (97), deren Bedeutungsnuancen ebenfalls näher vorgestellt werden (97). Obwohl der Begriff Jovialität ein moderner ist, entscheidet sich Jehne für ihn. Er exemplifiziert dies am Beispiel der morgendlichen salutatio, wenn ein römischer Adliger Angehörige der einfachen Bevölkerung empfing; dabei sollte er sich „jovial“ verhalten, so wie es im Deutschen Universalwörterbuch der Dudenredaktion formuliert wird: „im Umgang mit niedriger Stehenden betont wohlwollend“ mit dem Zusatz qualifiziert: „nur in Bezug auf Männer“ (98, Duden S. 791). Ausgangspunkt für Jehnes Überlegungen war eine Episode, die bei Livius nachzulesen ist (Liv. 4,49,7-50,5). Jehne erläutert das Fehlverhalten von zwei Amtsträgern und illustriert damit, dass der moderne Begriff „Jovialität“ sehr passend ist, um Situationen am Ende der römischen Republik genauer einordnen zu können. Er vergisst auch nicht darauf hinzuweisen, dass „die Bedeutung des Jovialitätsgestus“ nicht nur in der römischen Republik gefragt war, sondern auch im Prinzipat des Augustus eine wichtige Rolle spielte (112); für Jehne war dieser Herrscher „der konkurrenzlose Meister in dieser Kunst“ (112). Nach Sueton (Aug. 99,1) soll Augustus kurz vor seinem Tod zu seinen Freunden gesagt haben:

„Wenn es euch gut gefallen hat, gewährt Applaus

Und schickt mit Freude uns voraus.“ (112)

Der Titel des zweiten Aufsatzes lautet: Integrationsrituale in der römischen Republik. Zur einbindenden Wirkung der Volksversammlungen (113-134). Jehne konzentriert sich auf die Volksversammlungen, wobei drei Typen unterschieden werden: comitia curiata, comitia centuriata, comitia tributa (114). Hier wie auch sonst erklärt er die von ihm benutzten Begriffe, erläutert sein methodisches Vorgehen und setzt sich mit dem aktuellen Forschungsstand auseinander. Das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt, wie intensiv sich Jehne mit den Thesen anderer Forscher befasst und sie durchdenkt, bevor er zu einem eigenen Ergebnis gelangt.

Auch der dritte Aufsatz zeigt, wie sehr bei Jehnes Beiträgen alles zusammenhängt: Scaptius oder der kleine Mann in der großen Republik. Zur kommunikativen Struktur der contiones in der römischen Republik (135-162). Hier geht er von einer Stelle im Werk des Livius aus (Liv. 3, 71,1-8), um seine Sicht der Dinge zu entfalten. Der greise P. Scaptius, ein 83jähriger Mann aus der plebs, hat sein Leben lang an Sitzungen teilgenommen und in einer das Wort ergreifen wollen, ein sehr ungewöhnlicher Wunsch. Die Konsuln lehnten zunächst ab, aber aufgrund des Eingreifens der Volkstribunen wurde dem älteren Herrn das Wort erteilt (135). Jehne analysiert diese Episode genau. Allerdings gab es ein großes Problem bei diesem Vorgang: Auctoritas kann dem Volk (populus) zwar zugesprochen werden, aber nur dem Kollektiv, nicht Individuen (Cic. Imp. Cn. Pomp. 63). Jehne urteilt folgendermaßen: „Der auctor cupiditatis Scaptius ist also eine Pervertierung des auctoritas-Gefüges, denn er verfügt nicht über die normalen Grundlagen der auctoritas – vornehme Herkunft und erfolgreiche Karriere, die sich an Ämtern festmacht - , sondern ist eben ein contionalis senex de plebe“ (146). Die Scaptius-Geschichte zeigt, dass die Forschung der letzten 30 Jahre zu Recht zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangt ist. Aus der Sicht Jehnes ist in dieser Episode „das Verhältnis von politischer Führungsschicht und einfachem Volk auf den Ebenen der rechtlichen Festlegungen wie der soziopolitischen Praxis thematisiert“ (147). Jehne vertritt die Auffassung, dass die Scaptius-Episode eine Warnung darstellt. Weiterhin erklärt er: „Es fehlt ihnen (Rez.: gemeint sind „Versammlungsroutiniers“ wie Scaptius) der Wertehaushalt, der zur Lenkung der Staatsgeschicke nötig ist, sie kennen nur Gier und nackte materielle Interessen und stoßen dann, wenn sie sich als Redner versuchen, bei den Zuhörern auf Komplizenschaft, da diese ja dieselben moralischen Ausstattungsdefizite aufweisen. (…) Der kleine Mann Scaptius bewegt sich also in der großen Politik wie der Elephant im Porzellanladen, wobei er sich dabei auch noch besonders schlau vorkommt“ (157). Christoph Lundgreen, Jehnes Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Alte Geschichte in Dresden, erkennt im Kommentarteil, dass die von ihm ausgewählten Aufsätze trotz verschiedener Themen eng zusammengehören (168). Aus der Sicht Lundgreens hält sein akademischer Lehrer „die Stabilität und lange Dauer der römischen Republik“ für „erklärungsbedürftig“ (168). Im Zentrum der Forschungstätigkeit Jehnes stehen die Kommunikationsstrukturen, so Lundgreen (169).

Für den dritten Block mit verschiedenen Aufsätzen ist Claudia Thiersch verantwortlich, Lehrstuhlinhaberin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie hat für die drei von ihr ausgesuchten Aufsätze folgenden Titel gewählt: Rom, Italien und das Imperium. Die Forscher und Forscherinnen haben bei der Analyse der ausgehenden römischen Republik in den letzten Jahren ihren Blick auf Roms Vernetzungen mit Italien gelenkt. Thiersch schreibt dazu: „Dies erlaubt nicht nur die präzisere Frage nach den Ursachen für die militärische Dynamik Roms, sondern auch nach den Mechanismen politischer Integration bzw. Nichtintegration und ermöglicht dann, die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherien in ihrer kulturellen Vielfalt neu zu justieren“ (251). Thiersch geht auf die Forschungsergebnisse einiger Althistoriker ein, ordnet dann Jehnes Beiträge in den aktuellen Diskurs ein und stellt die Impulse vor, die von Jehne ausgegangen sind. Wichtig ist dabei auch der Ausblick auf den frühen Prinzipat des Augustus, um so die Entwicklung der letzten Jahre der ausgehenden römischen Republik verstehen zu können. Die Titel der drei Aufsätze, die zum Teil 2021 erstmals publiziert wurden, lauten: Römer, Latiner und Bundesgenossen im Krieg. Zu Formen und Ausmaß der Integration in der republikanischen Armee (175-196); Die Chance, eine Alternative zu formulieren, und die Chance, eine Alternative zu verwirklichen. Das Sagbare und das Machbare im republikanischen und augusteischen Rom (197-222); From Patronus to Pater. The Changing Role of Patronage in the Period of Transition from Pompey to Augustus (223-250). Auch wenn Römer, Latiner und Peregrine ein gemeinsames Heer bildeten, dienten die Soldaten dennoch nicht in „gemischten Einheiten“ (176). Die Latiner und andere Bundesgenossen waren jeweils in eigenen Kohorten und Alen tätig (176). Es ist dabei zwischen Armeeangehörigen der Oberschicht und den einfachen Soldaten streng zu differenzieren. „Während italische Oberschichtsangehörige innerhalb der Kavallerie oder als Truppenkommandeure fungierten und sich somit als Teil einer italisch-römischen Elite wahrnehmen konnten, kämpften italische Soldaten in regional gegliederten Kampfverbänden unter einheimischen Kommandeuren und hatten bestenfalls zufällig mit ihren römischen Mitsoldaten zu tun“ (252).

Augustus hat nachweislich aus den „Fehlern“ Caesars gelernt und seine Machtposition ausgebaut, indem er die sozialen Beziehungssysteme tiefgreifend transformierte, ohne dass das ursprüngliche Patronagegeflecht gänzlich aufgegeben wurde (259). Jehne versucht erfolgreich, die Gründe für die Transformationen der Beziehungen zwischen Rom und seinen italischen Verbündeten darzulegen. Wer sich noch genauer mit der Thematik befassen möchte kann auf die zahlreichen Publikationen zurückgreifen, die sich in den Literaturverzeichnissen am Ende der Aufsätze bzw. am Schluss des Kommentars finden.

Den vierten und letzten Block: Von der Republik zum Prinzipat hat Rene Pfeilschifter, Professor für Alte Geschichte an der Universität Würzburg, sorgfältig bearbeitet. Im ersten Aufsatz: Der Dictator und die Republik. Wurzeln, Formen und Perspektiven von Caesars Monarchie (269-293) geht Jehne von dem Hinweis aus, dass Caesars Streben nach der Monarchie nicht von Anfang an geplant war. Er gibt Antworten auf die Fragen, „warum Caesars Monarchie eigentlich die Gestalt annahm, die wir fassen können, warum Caesar sie, als sie ihm zugefallen war, nicht wieder aufgab, wenn er sie denn, wie ich dargelegt habe, mit einiger Wahrscheinlichkeit gar nicht angestrebt hatte, und welche Perspektiven sein System eigentlich bot“ (274). Pfeilschifter beschreibt im Kommentarteil sehr klar, worum es Jehne in seinem Aufsatz ging, nachdem er einen kurzen Streifzug durch die Entwicklung der deutschsprachigen Althistorie vorgenommen hat (341ff.). Für Jehne war es danach entscheidend, dass Caesar in seiner Position als dictator unabhängig war bei „der Besetzung der regulären Obermagistrate“ und daher die Chance erhielt, die Wahlen persönlich zu leiten (343). Caesar benötigte Bewerber, die ihm absolut loyal gegenüber waren. Er hatte nach Jehnes Darlegungen nie die Absicht, wie sein Vorbild Sulla, von seinen Ämtern zurückzutreten. Vielmehr galt folgendes: „Seine präzedenzlosen Leistungen forderten eben präzedenzlose Auszeichnungen“ (343). In Jehnes Perspektive trat Caesar bereits in der Republik als Monarch auf, und zwar so, „dass er sich bei aller Geschicklichkeit in der Behandlung der anderen von seiner Grundlinie nicht abbringen ließ. Diese Fixierung auf das Ziel war nicht republikanisch. Die ungeheure Flexibilität in der Sache, die republikanische Politiker aufbrachten, findet sich bei ihm nicht, dagegen übertraf er seine Kollegen möglicherweise hinsichtlich der Flexibilität in den Formen“ (293).

Der zweite Aufsatz ist folgendermaßen überschrieben: Caesars Alternative(n). Das Ende der römischen Republik zwischen autonomem Prozess und Betriebsunfall (295-314), während Augustus im dritten Beitrag eindeutig im Fokus steht: Augustus in der Sänfte. Über die Invisibilisierung des Kaisers, seiner Macht und seiner Ohnmacht (315-339). Augustus hatte zwar eine faktische Alleinherrschaft kreiert, diese wollte er aber nicht in der Öffentlichkeit besonders betonen, sondern behielt weitgehend die traditionelle res publica bei. Auch wenn er die morgendliche salutatio nicht gänzlich abschaffen konnte, verengte er gleichwohl die Zugänge zu seiner Person, „um die Menge der verteilten Ressourcen und der erzeugten Enttäuschungen gleichermaßen in Grenzen zu halten“ (339). In einer geschlossenen Sänfte gelang es ihm, seine Präsenz in der Öffentlichkeit stark zu reduzieren und sich den zahlreichen Bittstellern weitgehend zu entziehen. Andererseits hatte er Offenheit propagiert. Hier entstand natürlich ein gewisses Dilemma. Aber, so beschreibt es Jehne am Ende seines Beitrags: „Insgesamt zählt es zu den außerordentlichen Leistungen des Augustus, diese Gratwanderung gemeistert zu haben, ohne in den Geruch der Arroganz und Abgehobenheit geraten zu sein“ (339). Alle Aufsätze datieren aus der Zeit von 1993 bis 2021. Aus der Sicht Pfeilschifters interessierte sich Jehne für Caesar schon deshalb, weil sonst kaum eine historische Person „so reiches Anschauungsmaterial für Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Situation“ bietet (345).

Die Texte der zwölf Beiträge sind flüssig geschrieben, die Argumente gut nachvollziehbar, Ausgangspunkte sind oft kleine Episoden, der Blick des Forschers ist nicht nur auf die ausgehende römische Republik gerichtet, sondern er greift auch auf die Geschichte der früheren Jahrhunderte zurück und gewährt Ausblicke in die Zeit des frühen Prinzipats. Ältere Beiträge werden dadurch aktualisiert, dass sie von den vier Herausgeberinnen/Herausgebern kommentiert werden und neue Forschungsergebnisse eingearbeitet werden. Als Fazit ergibt sich, dass das Buch uneingeschränkt den Leserinnen und Lesern zu empfehlen ist, die sich mit der ausgehenden römischen Republik und dem Beginn der frühen Kaiserzeit unter Augustus beschäftigen wollen.

Rezensent: Dietmar Schmitz