Neuerscheinung des Monats
November 2026
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Maier, F., Das Gymnasium. »Eine Werkstatt der Menschlichkeit«? Zur Karriere einer Bildungsidee. Idea: Palsweis 2025. 169 S. 22,- EUR (ISBN: 978-3-988860-029-3).
Friedrich Maier, Autor zahlreicher Monografien, Aufsätze, Schullektüren und einer der anerkanntesten Fachdidaktiker im deutschsprachigen Raum, hat ein Werk vorgelegt, in dem seine Wertschätzung für die Schulform Gymnasium zum Ausdruck gebracht werden soll. Weitere Angaben zu Friedrich Maier kann ich mir schenken, denn dies bedeutete Eulen nach Athen tragen; dieser Spruch geht übrigens auf Aristophanes zurück, der in seiner Komödie Die Vögel (V. 301) um 400 v. Chr. folgende Frage gestellt hat: Τίς γλαῦκ‘ Ἀθήναζ‘ ἤγαγεν;/Wer hat eine Eule nach Athen gebracht?
Entsprechend dem klassischen Prinzip der Dreiteilung gibt es im zu besprechenden Band drei Rubriken, die chronologisch angeordnet sind: der erste Teil enthält die Analyse der Vergangenheit (13-48), der zweite die Diagnose der Gegenwart (49-99) und der dritte die Perspektiven der Zukunft (101-150). An die Schlussgedanken (151-153) schließen sich das Literaturverzeichnis (155-159), Angaben Zum Autor (161-162) und ein Anhang: Sokrates im Gespräch mit einem Roboter (163-169).
Bereits im Vorwort (9-12) betont Friedrich Maier, dass das Gymnasium eine „unendlich lange Tradition“ und „seine Wurzeln im antiken Griechenland geschlagen habe“ (9). Recht hat er natürlich mit dem Hinweis auf das Faktum, dass mit dem Erwerb des Abiturs der Zugang zu den Universitäten und Hochschulen verbunden ist (9). Wichtig ist ihm der Einfluss des tschechischen Pädagogen Amos Comenius, für den „die Bildungsanstalt »Schule« eine »Formungsstätte« der Menschen sei, sie sei »eine Werkstatt der Menschlichkeit, insofern sie den Menschen zum wahren Menschen macht«“ (9). Im Verlaufe seiner Darlegungen wird Maier immer wieder auf Gedanken des wohl bedeutendsten Pädagogen aus Tschechien zu sprechen kommen. Maier konstatiert mit voller Berechtigung das Fehlen einer Gesamtdarstellung der Schulart Gymnasium. Es gibt zwar Einzelstudien zu Phasen des Gymnasiums, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, aber eben keine Gesamtdarstellung. Diese Lücke möchte er mit dem vorliegenden Band schließen. Seine Studie umgreift zweieinhalb Jahrtausende der Geschichte des Gymnasiums und „kann als Zeichen der Wertschätzung des Autors dem Gymnasium gegenüber und als Angebot zur Selbstvergewisserung seiner Vertreter verstanden werden“ (10).
Bei den folgenden Beobachtungen konzentriere ich mich auf einige mir besonders wichtige Aspekte in der Geschichte des Gymnasiums. Der Ursprung dieser Schulart ist das »gymnasion« (gr.: γυμνάσιον) „als soziale Einrichtung einer Polis“, und zwar seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. (15). Einige Bevölkerungsteile waren gänzlich ausgeschlossen, wie Frauen und Sklaven, aber auch die niederen Schichten des Volkes. Zunächst war ein »gymnasion« eine Sport- oder Turnhalle, wo sich junge Adlige körperlich fit hielten bzw. trainierten, in der Regel nackt (gymnos, gr. γυμνός). Später wurde auch eine geistige Bildung vermittelt (16). Nachdem sie von Pädagogen (»Knabenführern«) in den Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens eingeführt worden waren, stand im Gymnasium die höhere Bildung im Vordergrund (16). Maier geht auf die Bedeutung des griechischen Philosophen Sokrates ein, der sich auf der Agora/Marktplatz mit jungen Menschen über existentielle Fragen des Lebens unterhielt und damit ein Gegenpol zu den Sophisten darstellte, denen es vor allem wichtig war, „die Technik des Redens und des politischen Durchsetzungsvermögens“ zu vermitteln (16/17). Wie eine solche Begegnung des Sokrates mit den jungen Menschen ablaufen konnte zeigt ein Zitat aus den Memorabilien des Xenophon (I 1, 10-19 m. A.), eines Schülers des Sokrates (17). Maier greift hier – wie auch später – auf entscheidende Quellen zurück, um seine Thesen zu untermauern. Man kann nicht behaupten, dass Sokrates die Bemühungen der Naturforscher, Entdeckungen zu machen, gänzlich ablehnte, ebenso wenig „wie die Vermittlung von bloßem Fachwissen durch die Sophisten, er will nur dem Menschen als einmaligem Erziehungsobjekt stets gegenüber allen anderen Forschungs- und Bildungszielen den Vorrang einräumen“ (20). Letztendlich geht es um den griechischen Begriff arete (gr. ἀρετή), der ein umfassender Begriff für den moralischen Wert, die Tugend und Werte wie „Anständigkeit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Weisheit, Tapferkeit, Herrschaftsfähigkeit“ darstellt (20). Nach Meinung von Maier ist eine derartige „wertebasierte Erziehung“ (20) nur auf der Basis von »Wissen« möglich, „das man sich durch Lernen aneignet“ (21). Schließlich lässt sich nach Maier konstatieren, dass „Menschlichkeit und Bildung die zwei Seiten einer Medaille sind“ (21).
Eine wichtige und nachhaltige Lehre haben die Vertreter der Stoa vermittelt, auf die letztendlich die Idee von der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit basiert (23). Die Stoiker sprachen von der Würde eines jeden Menschen. Mit diesen neuen Prinzipien wurden die Adligen in den Gymnasien vertraut gemacht. Insbesondere Cicero spielte bei der Etablierung einer menschengemäßen Bildung in Rom eine entscheidende Rolle, wobei der Begriff der humanitas all diese Ideen beinhaltete (23).
Die Christen griffen in der Frühzeit ihrer Glaubensgeschichte das griechische Bildungsideal, das in Rom von Cicero und Seneca verbreitet wurde, auf und komplettierten das Konstrukt der klassischen Tugenden: Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit durch die drei christlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe, „die als die »Kardinaltugenden« seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. als Wertekanon der abendländisch-christlichen Lebens- und Weltgestaltung fungierten“ (28). Den Klöstern bzw. den Klosterschulen kam die Aufgabe zu, diese Bildungsgüter der Antike aufzugreifen und ihren Schülern zu vermitteln, zunächst denen, die als Priester und Mönche fungieren sollten, später auch Laien und sogar adligen jungen Mädchen (30). In Klosterschulen wie St. Gallen oder auch Corvey standen Griechisch und Latein auf dem Lehrplan, natürlich christliche Autoren, daneben auch heidnisch antike, wobei die Fächer der sogenannten artes liberales in das Trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und in das Quadrivium (Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie) eingeordnet wurden. Im Laufe der Zeit und gegen mancherlei Widerstände wurde es auch Menschen der unteren Schichten ermöglicht, solche Schule zu besuchen und sich eine höhere Bildung anzueignen, um einen beruflichen Aufstieg zu erreichen.
In der Epoche des Renaissance-Humanismus stand bald wieder das klassisch-antike Bildungsprogramm im Vordergrund, d.h. die klassischen Sprachen Griechisch und Latein nahmen auf dem Lehrplan die wichtigsten Positionen ein, befördert von bedeutenden Humanisten wie Erasmus von Rotterdam (1466-1536) und Philipp Melanchthon (1497-1560) (34). Es entstanden, oftmals hervorgegangen aus ehemaligen Klosterschulen, Eliteschulen, in denen die zukünftigen Führungskräfte ausgebildet wurden; solche achtjährigen Schulen wurden in der Regel als Gymnasien bezeichnet, die häufig die Namen bekannter Humanisten erhielten, wie etwa das wohl älteste Gymnasium in Deutschland, das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg (34). Diese Schule wurde 1526 gegründet und feiert 2026 seinen fünfhundertsten Geburtstag. Anfang des 17. Jahrhunderts vollzog sich ein Kulturwandel, in dessen Verlauf verschiedene Typen von Gymnasien entstanden: so etwa das „neusprachliche“ Gymnasium oder auch das „naturwissenschaftliche“ Gymnasium. Das humanistische Bildungsideal trat an diesen Schulen weitgehend in den Hintergrund, im Fokus standen einerseits die modernen Fremdsprachen oder andererseits Fächer wie Biologie, Physik und Chemie (37). Wäre nicht Amos Comenius (1592-1670) aufgetreten und hätte er nicht soviel Wirkung erzielt, hätte sich vielleicht die Bildungslandschaft in Europa zuungunsten der Alten Sprachen entwickelt. Dank ihm standen die Ideen des humanitas-Gedankens wieder im Zentrum der Bildungslandschaft. Der Berliner Didaktiker Andreas Fritsch hat in mehreren Studien die besondere Bedeutung des humanitas-Begriffs, so wie wir ihn in den Schriften des Amos Comenius vorfinden, klar herausgearbeitet (vgl. Literaturverzeichnis, 155/156). In der Perspektive Maiers greift der Reformator Comenius folgerichtig auf das sokratische Bildungsideal zurück. Für den tschechischen Pädagogen sollte das Gymnasium zu „einer Werkstatt der Menschlichkeit“ werden, in dem der Mensch wahrhaft zu einem Menschen werde (scholae sunt officinae humanitatis, efficiendo nimirum, ut homines vere homines fiant, 40). Maier ist zutiefst davon überzeugt, dass Amos Comenius auf die nachfolgenden Generationen bis heute gewirkt hat und dass seine „Idee einer auf Wissen gegründeten Menschenbildung“ nicht nur für das humanistisch geprägte Gymnasien gilt, sondern auch für „alle anderen Schulen als verbindlich angesehen werden“ sollen (41).
Nachdem Maier in einem ersten Abschnitt von Teil 1 den Ursprung des Gymnasiums untersucht (13-33) und im zweiten Abschnitt die Renaissance des klassischen Gymnasiums beleuchtet hat (34-41), analysiert er im dritten Abschnitt Die Revolution der Bildungswelt (42-48). Die Idee des Fortschritts spielte ab dem 17. Jahrhundert eine immer größer werdende Rolle. Einer religiös gefärbten Fortschrittsgläubigkeit begegnete Wilhelm von Humboldt (1767-1835) mit seinen Bildungsreformen. Darin finden sich Maier zufolge Ideen der sokratischen Lehre, ebenso der humanitas-Gedanke, wie wir ihn bei Cicero und Seneca vorfinden, genauso wie Aspekte von Erziehung, wie sie im Werk des Comenius formuliert sind. Maier sieht im Bildungsideal des Neuhumanismus einen eklatanten Gegenpol zu den von manchen Bereichen der Industrie geforderten Bedürfnissen auf den Gebieten von Technik und Wirtschaft (44-45). Sodann kommt Maier auf den Einfluss von Robotern und KI zu sprechen. Darin ist seiner Meinung nach ein »digitaler Imperialismus« zu erkennen, wobei sich der Mensch „diesen imperialen Mächten bedingungslos zu unterwerfen“ scheint (46). Man sollte allerdings die Entwicklungen, die mit KI einhergehen, nicht vornherein verteufeln, sondern vielmehr versuchen, deren Errungenschaften für den aktuellen Unterricht zu nutzen. Dies praktiziert in vorbildlicher Weise Rudolf Henneböhl, der in mehreren Publikationen darum bemüht ist, das Thema KI für Griechisch und Latein aufzugreifen und die möglichen Vorteile dieser Errungenschaft für die beiden Fächer fruchtbar zu nutzen (Henneböhl, R., KI-Bildung. Ein Leitfaden für Lehrende, Eltern und junge Erwachsene. Wie die neuen Bild- und Textwelten die Welt des Menschen verändern. Ovid Verlag: Bad Driburg 2024).
Im zweiten Teil des Buches (Diagnose der Gegenwart), Abschnitt I, erörtert Maier Aktuelle Absurditäten (51-63); dabei kritisiert er den „Handy-Wahn“ (52-54), geht auf den »Homo digitalis« ein (54-58) und stellt die Frage, ob das Buch ein Ekel sein kann (58-63). Maier moniert mit voller Berechtigung, dass die Lesekultur erheblich abgenommen hat; nach neuesten Studien (die Maier wie in manch anderen Fällen nicht genau angibt) liest der „Durchschnittsmensch nur noch 27 Minuten am Tag ein gedrucktes Wort“ (59). In Abschnitt II analysiert Maier die existentiellen Herausforderungen (64-99). Seine Befürchtung, der Mensch werde durch die KI letztendlich verdrängt und überflüssig (67), muss ernst genommen werden, und es müssen ergriffen werden, die das verhindern. Unter Rückgriff auf die beiden Antipole Prometheus und Epimetheus versucht Maier, gegensätzliche Positionen zu beleuchten. Der Erstgenannte symbolisiert „die menschliche Leistungskraft, zu allererst auf dem technisch-naturwissenschaftlichen Felde“ (69), der zweite repräsentiert die Neigung, ohne Zeitdruck zu einem nachvollziehbaren Urteil zu gelangen. Maier zitiert einen Text, der an der Decke des Sitzungssaales der Ruhr-Universität Bochum zu lesen ist: „Das Brüderpaar aus dem antiken Mythos als Symbolfigur für eine moderne Universität zu wählen, bedeutet, die alten Strebensziele für die neuen Wissenschaften zu übernehmen. Prometheus, der Vorausdenkende, steht für die entdeckenden Natur- und Ingenieurwissenschaften, Epimetheus, der Nachdenkliche, für die textauslegenden Geisteswissenschaften. Die Universität trachtet danach, das Prometheische mit dem Epimetheischen zu verbinden“ (76/77). So ist zu begreifen, dass diese Universität in ihr Siegel die beiden mythologischen Figuren Prometheus und Epimetheus aufgenommen hat. Politisch wird Maier, wenn er die beiden konträren Machtblöcke in Ost und West gegenüberstellt (Die Konfrontation zweier Machtblöcke, 86-90). Autokratie und Demokratie sind unvereinbar; wie aktuell dieses Thema ist zeigen die Ereignisse in unserer Gegenwart. Am Ende des zweiten Teils seines Buches verzichtet Maier nicht darauf, Fragen der Umweltverschmutzung und die Vergewaltigung der Erde (92) anzusprechen.
Der dritte Teil des Buches gewährt einen Blick in die Zukunft: Perspektiven der Zukunft (101-150) und ist in vier Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt geht Maier auf die Vertiefte Allgemeinbildung (103-107) ein, erinnert an entscheidende Bildungsreformen im 20. und 21. Jahrhundert (Stichworte: Curriculum-Reform, Kompetenz-Modell) und erläutert die drei Dimensionen der Allgemeinbildung (105-107): Information, Reflexion, Kontemplation. Im zweiten Abschnitt erklärt Maier seine Vorstellungen von Allgemeinbildung und Verantwortungsethik (108-111). Nachdem er im dritten Abschnitt seine Gedanken über die Aufgaben eines Schulleiters und die „Sonderqualitäten der Fächer“ vorgestellt hat (112-134), präsentiert er im vierten Abschnitt (Übergreifende Impulse, 135-150) seine Meinung von der Leistungsfähigkeit des Gymnasiums. Dabei kann ein fächerübergreifendes Verfahren eine »vertiefte Allgemeinbildung« ermöglichen (136), um ein häufig beklagtes Vergessen der gelernten Fachstoffe zu verhindern. Im ersten Unterabschnitt wendet sich Maier nicht gegen die naturwissenschaftlichen Fächer, sondern lediglich gegen eine „technologische Besessenheit“ (136); desweiteren beklagt er die „Ignoranz gegenüber der Klimakrise“ (138) und fordert von den Lehrenden der Fächer Geographie, Ethik- und Religionsunterricht, Themen wie Klimawandel, Vermüllung der Weltmeere und weiteres Fehlverhalten der Menschen im Unterricht zu behandeln. Neben anderen Fächern können die Alten Sprachen einen Beitrag dazu leisten, die „Demokratieverdrossenheit“ zu bekämpfen (140), ebenso sind sie in der Lage, durch Auswahl geeigneter Texte sich daran zu beteiligen, die Freiheit zu verteidigen und friedensstiftend zu wirken (144). Maier prangert auch eine „kulturelle Magersucht“ (145) an; im Fall der Anwendung von Chat-GPT sieht er die Gefahr, dass sich bei den Schülerinnen und Schülern „sprachgestalterische Defizite“ (146) einstellen, falls nicht in den sprachlichen Fächern das Verfassen von Texten gelehrt wird oder Sprachen nicht kontrastiv erlernt werden. Wenn Maier insgesamt ein düsteres Bild von der gegenwärtigen Situation des Gymnasiums zeichnet, sieht er gleichwohl auch Lichtblicke: „Wer sollte da noch Zweifel haben, dass die schöngeistigen Fächer des Gymnasiums mit ihren Stoffen und Methoden der Menschlichkeit in den Köpfen und Seelen der nachwachsenden Generation wieder oder verstärkt einen Raum schaffen, in dem das, was den Menschen zum wahren Menschen macht, Wurzel fassen kann?“ (150). Diese Hoffnung wird auch in dem Kapitel: Schlussgedanken deutlich (151-153).
Friedrich Maier hat sich mit seinem jüngsten Opus nicht nur selbst ein Geschenk zu seinem neunzigsten Geburtstag gemacht, sondern letztendlich auch den Lehrenden der Alten Sprachen. Wer sich mit der Geschichte des Gymnasiums befassen will, erhält durch die Lektüre des Bandes wichtige Erkenntnisse und Informationen, aber auch Anregungen darüber nachzudenken, in welcher Art und Weise die Fächer Griechisch und Latein dazu beitragen können, dass junge Menschen adäquat auf die Zukunft vorbereitet werden. Während es in der Antike und den sich daran anschließenden Epochen nur Adligen gewährt wurde, ein Gymnasium zu besuchen, öffnete sich diese Schulart im Laufe der Jahrhunderte auch für alle anderen Schichten. Es ist allerdings darauf zu achten, dass ein gewisses Niveau erhalten bleibt, auch wenn es für viele Menschen erfreulich sein mag, wenn jeder, der möchte, das Gymnasium durchlaufen kann. Lernen macht – wie sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer aus eigener Erfahrung wissen - nicht immer nur Spaß, sondern verlangt von allen Beteiligten, auch von den Eltern, viel ab. Methoden und Lerngegenstände müssen in der Regel hart erarbeitet werden, auch unter Zuhilfenahme von neuen Errungenschaften; diese dürfen aber nicht in den Vordergrund treten, im Mittelpunkt müssen die Menschen stehen, also die Schülerinnen und Schüler. Die Verantwortlichen in Politik und in den Schulen vor Ort sollen - wenn es nach Friedrich Maier geht - dafür Sorge tragen, dass das Gymnasium auch heute und in Zukunft „eine Werkstatt der Menschlichkeit“ ist und bleibt.
Rezensent: Dietmar Schmitz

Oktober 2025
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Jennifer Saint, Atalanta. Roman. Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs, Berlin (Ullstein) 2023, ISBN 978-3-471-36075-0, 384 Seiten, € 24,99 (Englische Originalausgabe: Atalanta, London 2023)
Jennifer Saint ist eine britische Autorin, die sich nach ihrem Studium am King’s College in London auf die Neuerzählung griechischer Mythen aus weiblichem Blickwinkel spezialisiert hat.
Von ihrem Vater, König Iasos von Arkadien, der einen Sohn als Erben und keine Tochter will, ausgesetzt, wächst Atalanta unter dem Schutz der Göttin Artemis zu einer außergewöhnlichen Jägerin heran. Nachdem sie sich im Kampf gegen Zentauren bewährt hat, entsendet Artemis sie, den vertrauten Wald zu verlassen und in ihrem Namen an der gefährlichen Fahrt der Argonauten nach Kolchis unter Jasons Führung teilzunehmen. Begleitet wird sie von Artemis‘ Warnung vor einer Prophezeiung, dass eine Eheschließung ihr Verderben sein wird. Als einzige Frau segelt sie an Bord der Argo in einer Gruppe von Männern: Sie lernt unter anderem die Helden Herakles und Jason, Orpheus und Meleagros sowie Peleus kennen. Manche davon wie Orpheus und Meleagros zeigen sich ihr gegenüber wohlwollend, während der Großteil der Mannschaft sie aufgrund ihres Geschlechts ablehnt. Wortführer dieser ablehnenden Gruppe wird zunehmend Peleus, den Atalanta jedoch schließlich im Ringkampf besiegen kann. Ein Höhepunkt des Romans ist sicherlich auch der Dialog von Atalanta und Medea auf der Rückfahrt über den Sinn von Hochzeiten und ihre eigenen Rollen gegenüber Ehemännern, Vätern, … („Ich konnte nicht glauben, dass eine so mächtige Frau wie Medea sich an einen Mann wie Jason band, dass sie sich aus freien Stücken so kleinmachte und seine Frau werden würde.“, S. 262). Nach der Rückkehr der Argonauten mit dem erfolgreich gestohlenen Goldenen Vlies schließt Atalanta sich Meleagros‘ Jagd auf den Kalydonischen Eber an. Obwohl sie auch hier Erfolg hat, muss sie wiederum verbal wie physisch schmerzlich erfahren, dass die von Männern dominierte Gesellschaft sie nie als gleichwertig akzeptieren wird. Enttäuscht kehrt sie nach einiger Zeit zu ihrem Vater zurück, der sie, die Argonautin, daraufhin an denjenigen verheiraten will, der sie im Wettlauf besiegen kann. Wer hingegen verliert, wird sofort hingerichtet. Auch Iasos reduziert die Protagonistin damit auf ihre gesellschaftliche Rolle als gute Ehefrau („Doch du bist zurückgekommen und willst dein Geburtsrecht für dich beanspruchen. Als Tochter eines Königs ist dieses Geburtsrecht die Ehe.“, S. 349). Mit Unterstützung der Göttin Aphrodite, die mit Artemis rivalisiert, gelingt es dem Jäger Hippomenes, den Atalanta lange zuvor vor den Zentauren gerettet hat, ein Wettrennen gegen sie zu gewinnen. Atalantas innere Unruhe erreicht hier ihren Höhepunkt: Zwar will sie nicht heiraten, jedoch ihren Gegner auch vor dem Tod bewahren. Schließlich brechen die Protagonistin und Hippomenes nach dessen Sieg mit den gesellschaftlichen Erwartungen, verlassen Aphrodite trotzend ihre eigene Hochzeitsfeier sowie die Zivilisation und leben schließlich – nach einer List der Göttin der Liebe von Kybele in eine Löwin und einen Löwen verwandelt – fernab der Zwänge menschlicher Gesellschaft und Konventionen.
Atalanta ist eine gelungene Neuinterpretation eines antiken Mythos zugunsten einer Heldin, die lange im Schatten anderer Figuren stand. Jennifer Saint verbindet poetische Sprache und eindrucksvolle Bilder mit einem tiefen Verständnis für die antike Mythologie und einer modernen feministischen Perspektive. Diese feministische Perspektive, die der Roman insgesamt überzeugend darstellt, ist allgegenwärtig in einer Frauenfigur, die sich wiederholt gegen die von Männern aufgezwungenen Regeln zur Wehr setzt und aus den von diesen zugedachten Handlungsspielräume ausbricht. Die Autorin geht dazu über die klassischen Heldengeschichten hinaus und macht Atalantas innere Entwicklung greifbar. Die Erzählweise ist dabei oft eher ruhig und fokussiert sich auf das Denken und die Wahrnehmung der Jägerin.
Philipp Buckl, Bergische Universität Wuppertal

September 2025
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Katherine Marsh, Mythen der Monster. Medusa, aus dem englischen von Jennifer Michalski, Hamburg (Carlsen Verlag) 2024, 320 Seiten, 15,00 € (Englische Originalausgabe: Medusa (The Myth of Monsters 1), 2024).
Die amerikanische Autorin Katherine Marsh war nach ihren Englisch-Studium erst einmal als Journalistin und Chefredakteurin tätig – bei ihrer aktuellen Autorinnentätigkeit treten neben ihrer Recherchefähigkeit nun aber auch ihre Interessen für die griechisch-römische Mythologie und Sprachen im Allgemeinen in den Vordergrund.
Ihre Kinderbuchreihe Mythen der Monster (empfohlen für Mädchen und Jungen ab 10 Jahren) behandelt in jedem Band ein anderes Monster, sodass die einzelnen Bücher unabhängig voneinander lesbar sind. Der erste Band beschäftigt sich mit Medusa:
Die 11-jährige Amerikanerin Ava führt – abgesehen von ihrem Außenseiterdasein und ihrer Neigung zu Wutausbrüchen – ein ganz normales Leben, bis sie im Unterricht einen Klassenkameraden erstarren lässt, der ihr frecher Weise ein Buch über Athene vor der Nase weggeschnappt hat. Daraufhin sendet ihre Mutter sie und ihren älteren Bruder Jax auf ein Internat in Venedig, die Academia del Forte, und das Abenteuer beginnt. Hier kommen die beiden nämlich mit Kindern aus der ganzen Welt zusammen, die alle eine Gemeinsamkeit haben: Ihr Stammbaum lässt sich bis zu den Monstern der antiken griechischen Mythologie zurückverfolgen. Das kann man neben ihrer DNA auch an den Fähigkeiten erkennen, die Jungs und Mädchen im Laufe der Zeit entwickeln und die sie in der Academia zügeln lernen sollen.
Endlich fühlt sich Ava als Teil einer Gemeinschaft und genießt den Unterricht, der sich um ihre Lieblingsthemen dreht: Alte Sprachen (sogar in richtiger Anwendung!), Kenntnis der Mythen, Handwerken und Schwimmen (auch wenn die Nachfahren von Skylla und Charybdis ihr dabei das Leben schwer machen). Unterrichtet werden diese beispielsweise von Miss Demi (=Demeter), Miss Klio (!) oder Mister Heff (= Hephaistos) unter dem Schulleiter (und Poseidon-Sohn) Orion.
Doch schon bald schleichen sich bei Ava und Fia, die schnell beste Freundinnen geworden sind, und ihren Freund*innen Zweifel am Vorgehen der Schule ein: Warum werden hier nur bestimmte Versionen der Mythen anerkannt? Und warum wird jeder von ihnen als Monster abgestempelt, obwohl ihre Fähigkeiten auch Gutes vermögen? Warum spricht Avas Mutter nicht gerne über ihre Zeit an der Schule? Und warum wird Fia die Stimme genommen, als sie genau diese Fragen zu stellen beginnt?
Bei dem Versuch, Fias Stimme und ihre Zukunft zu retten, stößt die Freundesgruppe auf viel (Geschlechter)Ungerechtigkeit, durchlebt eine Aufregung nach der anderen und rettet am Ende nicht nur eine einzige Person.
Marsh bietet mit ihrem Werk einen sehr modernen, feministischen Blick auf die antike Mythologie, der die Begeisterung für die Antike allerdings nicht schmälert, sondern durch die Liebe zum Detail und frischen Wind vielmehr stärkt.
Anna Stöcker, Bergische Universität Wuppertal

August 2025
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Korenjak, M., Latein. Porträt einer Weltsprache. München 2025. 128 S. EUR 12,- (ISBN: 978-3-406-83196-6).
Der Beck-Verlag München publiziert seit dreißig Jahren in der Reihe Wissen kleine Bücher mit einem bestimmten Umfang zu ganz verschiedenen Themenbereichen aus Kultur- und Naturwissenschaften. Es handelt sich jeweils um sehr sorgfältig recherchierte Monographien, die sich sowohl an die Fachwelt als auch an ein breiteres Publikum richten. Die Autorinnen und Autoren der bislang 700 Bücher haben in der Regel bereits ein Werk zum anstehenden Thema herausgegeben und sind gehalten, ihre Ausführungen auf 128 Seiten zu beschränken. Dies hat zur Folge, dass äußerste Konzentration auf wesentliche Aussagen notwendig ist und Kürze angestrebt wird, ohne auf Vermittlung wichtiger Erkenntnisse und auf die Bearbeitung wesentlicher Fragestellungen zu verzichten. Von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird erwartet, dass sie sich eines flüssigen und mustergültigen Stils bedienen und dabei eine verständliche Darstellung ihrer Abhandlung anbieten. In dieser Reihe hat Martin Korenjak einen Band zur außergewöhnlichen Bedeutung der lateinischen Sprache im Rahmen der Kultur- und Geistesgeschichte Europas von der Antike bis in unsere Zeit vorgelegt. M. Korenjak (K.) wirkt als Professor für Klassische Philologie an der Universität Innsbruck und ist mit einer beeindruckenden Publikation zum Thema aufgefallen: Geschichte der neulateinischen Literatur. Vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2016; dazu kommt noch folgendes Buch: Neulatein. Eine Textsammlung. Lat./D. Stuttgart 2019 (vgl. meine Rez. dazu im Forum Classicum, Heft 3, 2021, 214-218).
Das Opusculum ist im Aufbau klar gegliedert und strukturiert: an das gehaltvolle Vorwort (7-8) schließen sich die fünf Kapitel zu Sprache (9-39), Literatur (40-68), Recht (69-82), Religion (83-98) und Wissenschaft (99-114) an. Ein Ausblick (115-119) gewährt Gedanken zu den Fragen, erstens wie es in der Gegenwart um Latein insgesamt steht und zweitens, was sich über die Zukunft des Faches Latein sagen lässt.
Am Schluss des Bändchens finden sich das Literaturverzeichnis (120-122), die Zeittafel (123-124), beginnend mit der römischen Königszeit (753 v. Chr. – 510 n. Chr.) und endend mit dem Hinweis auf „automatisierte Übersetzungen aus dem Lateinischen auf der Basis von GPT und anderen Large Language Models“, der Bildnachweis (125) sowie das Register (126-128).
Im Vorwort erläutert K., warum er neben dem Kapitel Sprache vier weitere ausgewählt hat; darin diskutiert er „zentrale Aspekte der westlichen Kultur, deren Entwicklung untrennbar mit Latein verflochten sind: Literatur, Recht, Religion und Wissenschaft“ (7). Damit liefert K. weitere Argumente, warum Latein in der Schule unterrichtet werden soll und keine „tote“ Sprache ist.
Im ersten Kapitel Sprache bietet K. interessante Informationen über Herkunft und Eigenart (9-16). Latein war ursprünglich lediglich ein lokaler Dialekt in der Landschaft um Rom, nämlich Latium. Damit die Leserinnen und Leser auch einen visuellen Eindruck erhalten, hat K. eine schwarz-weiß gehaltene Karte der italischen Halbinsel abdrucken lassen (10). Die Nachbardialekte Faliskisch, Umbrisch und Oskisch und letztlich auch das Etruskische sind in der Zeit des Augustus untergegangen, wohl auch aus politischen Gründen wegen der Dominanz der Römer. Die Ur-Indoeuropäische Sprache hat an die lateinische Sprache lautliche, lexikalische und grammatikalische Elemente weitervererbt, wofür K. eine Reihe von Beispielen liefert. Am stärksten sind die Unterschiede der modernen Sprachen Europas auf dem Gebiet der Grammatik zu erkennen. Im Gegensatz zu diesen Sprachen, die meist analytisch sind, war das Ur-europäische ein flektierendes Idiom, was bedeutet, dass „das Verhältnis eines Wortes zu anderen im gleichen Satz durch Änderungen der Wortgestalt“ kenntlich gemacht wurde (11). Der Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen (12) informiert die Leserinnen und Leser über die verwandtschaftlichen Beziehungen der einzelnen „Töchter“ der urindoeuropäischen Sprache. An diesen eher linguistisch geprägten Abschnitt schließt sich der nächste an: Vom Lapis niger bis zum Ende der Antike (16-25). Die Skizze auf Seite 17 gewährt Einblicke in die Schriftsysteme weltweit. Neben dem Lateinischen, das durch die romanischen Sprachen auch auf anderen Kontinenten wie Amerika, Afrika und Australien Verbreitung fand, spielen das Arabische, das Kyrillische und andere Alphabete und Silbenschriften Verwendung. K. führt einige Beispiele des Frühlatein (7.- 3. Jahrhundert v. Chr.) und des Altlatein (Mitte des 3. - frühes 1. Jahrhundert v. Chr.) an, um dann Angaben zum klassischen Latein (Ende der Republik, Anfang des Prinzipats) zu machen. Für die weitere Entwicklung der lateinischen Sprache ist von großer Bedeutung, dass zwischen einer Hochsprache und einer Umgangssprache unterschieden werden muss. Während im 3. – 6. Jahrhundert in alltäglichen Lebenssituationen vor allem die „vulgärlateinischen Dialekte“ verwendet wurden (24), konnte man bei den Schülern keine genauen „Kenntnisse der lateinischen Schriftsprache“ erwarten (25). Daher kam das Bedürfnis auf, Lateingrammatiken zu publizieren; eine wichtige stammt von Donat (310-380), mit der die Schüler wieder „korrektes klassisches Latein“ lernen konnten (25). Bezüglich der Genera kam es zu einer Reduktion, denn das Lateinische verfügt über drei Genera, während die romanischen Sprachen nur Maskulin und Feminin kennen. K. weist darauf hin, dass im Vulgärlatein „das Maskulinum das Neutrum absorbierte“ (23). Es gilt aber zu bedenken, dass einige Lexeme, die im Lateinischen Neutrum sind, beim Übergang in die romanischen Sprachen feminine Wörter wurden, möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass die Pluralmarkierung auf -a endet; zum Beispiel wurde folium /Blatt im Französischen zu la feuille (spanisch: la hoja, portugiesisch: a folha, italienisch: la foglia), arma/Waffen (frz.: les armes, span.: las armas, port.: las armas, ital.: arma, pl: armi), lumen/Licht (frz.: la lumière). Zwei Publikationen, die nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt werden, sollen hier genannt sein: zu einem G. Devoto (Geschichte der Sprache Roms. Aus dem Italienischen übersetzt von Ilona Opelt. Heidelberg 1968), zum anderen P. Poccetti/D. Poli/C. Santini, Eine Geschichte der lateinischen Sprache. Tübingen/Basel 2005).
Im Unterabschnitt Vom Frühmittelalter bis heute (25-39) beschreibt K. die weitere Entwicklung des Lateinischen mit knappen Strichen bis in unsere Zeit. Aus den sogenannten vulgärlateinischen Dialekten entwickelten sich die romanischen Sprachen, ab dem Frühmittelalter gibt es keine Muttersprachler der Sprache Ciceros, während die antiken Nachbarsprachen aussterben (27). K. erläutert den Vorteil, über den internationale Kultursprachen wie das Latein, das klassische Arabisch oder das Sanskrit verfügen: Sie unterliegen keinem Sprachwandel, sind unparteiisch. Der katholischen Kirche ist zu verdanken, dass Latein weiterlebte, denn in der westlichen Hälfte des römischen Reiches war diese Sprache ab dem zweiten Jahrhundert die „Sprache der Bibel, der Liturgie und der Verwaltung“ (27). Vertreter des Klerus beherrschten Latein, und als am Ende der Antike das weltliche Bildungswesen verfiel, übernahm die Kirche die Ausbildung „in Kloster-, Dom- und Pfarrschulen“ (27). Erst am Ende des Mittelalters wurden Lateinschulen gegründet, die einer nichtkirchlichen Institution angehörten.
Den Jesuiten kam in der frühen Neuzeit eine enorm wichtige Rolle bei der Verbreitung der Kenntnisse des Lateinischen zu, denn sie verwendeten und lehrten Sprache und Kultur nicht nur in Lateinamerika, sondern auch im Fernen Osten. Während sich die Autoren der Scholastik weit vom klassischen Latein entfernten, legten die Humanisten großen Wert auf die Beherrschung des klassischen Lateins. Zu nennen sind vor allem Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536), Philipp Melanchthon (1497-1560) und ein Drucker wie Aldus Manutius (1449-1515), durch die die Schüler „in ganz Europa und darüber hinaus einen Sprachgebrauch, der sich hauptsächlich an Cicero orientierte und dem glich, der im Lateinunterricht bis heute vermittelt wird“, kennenlernen (33). K. verzichtet auch nicht darauf, den problematischen Begriff „Mittellatein“ zu erörtern (30-32). Auf den folgenden Seiten geht K. auf sein Spezialgebiet ein: das Neulatein (34-37). Auch dieser Begriff ist umstritten, gleichwohl wird aus praktischen Gründen an ihm festgehalten. Zunehmend verliert die lateinische Sprache an Bedeutung und wird von den Volkssprachen mehr und mehr verdrängt; auf der anderen Seite beklagt ein Wissenschaftler wie Albrecht von Haller (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1778, 1. Zugabe, 566), dass die Gelehrten „anstatt der einzigen lateinischen jetzt sechs oder acht Sprachen verstehen müssen“ (37). Zum Schluss geht K. auf das Faktum ein, dass „der volkssprachige Wortschatz gesättigt (ist) mit lateinischen und griechisch-lateinischen Lehnübersetzungen“ (39). Insbesondere internationale Neologismen verdanken den beiden klassischen Sprachen ihre Existenz, etwa Medizin, Nation oder Radio (39).
Im zweiten Kapitel Literatur erklärt K., was heute und was in der Antike und den nachfolgenden Epochen unter Literatur zu verstehen war und ist. Während heutzutage „die Idee der Fiktionalität“ vorherrscht, war dies in der Vormoderne so gut wie ohne Bedeutung, vielmehr legte man den größten Wert auf „die sprachliche Gestaltung“ eines Textes 40). Aus moderner Sicht frappiert das Faktum, dass einerseits ein ausgeprägtes Gattungsbewusstsein vorherrschte, andererseits der Rhetorik eine immense Bedeutung zugemessen wurde (41). Im ersten Unterabschnitt dieses Kapitels: Literatur vor der Moderne (40-42) äußerst sich K. auch zur Rolle der Frau in der Literatur der Antike und der ihr nachfolgenden Epochen. Er nennt einige Beispiele von römischen Autorinnen, denen es gelungen war, die damals bestehenden Bildungshürden zu überwinden: die Adlige Römerin Sulpicia (in der Zeit des Augustus), von der einige wenige Liebesgedichte überliefert wurden, die Christin Egeria (4. Jahrhundert), von der ein „Bericht ihrer Pilgerreise ins Heilige Land“ (42) tradiert wurde. Aus dem Mittelalter kennen wir Dramen von Hrotsvit von Gandersheim (um 935-nach 973) sowie eine Enzyklopädie (Hortus deliciarum), die aus der Feder von Herrad von Landsberg (1125/30-1195) stammt (42). K. stellt am Ende seiner Ausführungen lapidar fest: „Aufs Ganze gesehen war die lateinische Literatur eine Männerdomäne“ (42).
Auf wenige Seiten beschränken musste sich K. im Abschnitt über Die römische Literatur (42-54). Im Literaturverzeichnis führt er einige Titel auf, hinzufügen sollte man auf jeden Fall die zum Standardwerk avancierte Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius (Bern 1992, 32012) von Michael von Albrecht. K. beginnt verständlicherweise mit Livius Andronicus (gest. nach 207 v. Chr.), geht auf einzelne Texte kurz ein, liefert instruktive Bemerkungen zur Metrik, präsentiert Informationen nicht nur zu Prosa und Dichtung (Caesar, Cicero, Horaz, die Neoteriker, Vergil, Ovid, Seneca usw.), sondern auch zu einem Fachschriftsteller wie Marcus Terentius Varro (116-27 v. Chr.). K. stellt auch knapp einige wenige Kirchenschriftsteller wie Hieronymus und Augustinus vor, um dann Beispiele der Rezeption auf dem Gebiet des Epos anzuführen wie etwa Dantes Divina Commedia (1321), Os Lusíadas des Portugiesen Luís de Camões (1572) oder die Franciade eines Pierre de Ronsard (1572). Da K. die Aeneis des Vergil für besonders wichtig hält, und dies mit voller Berechtigung, widmet er diesem Text mehrere Seiten (54-58). Im Anschluss daran führt er die Leserinnen und Leser in die Literatur der Nachantike ein und erinnert daran, dass quantitativ gesehen „die antike Latinität nur ein kleiner Auftakt zu einer viel umfangreicheren Produktion“ (58) war. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden erheblich mehr Texte publiziert als je zuvor. Die Autoren dieser Epochen orientierten sich zwar an Themen und Ideen ihrer Vorgänger, kreierten aber „neue, eigenständige Gattungen, Stile und Metren“ (58). Angaben zum Werk des Jacobus de Voragine (Legenda aurea) fehlen ebenso wenig wie zu philosophischen Opera eines Thomas von Aquin (1225-1274), zur Poesie eines Thomas von Celano (1190-1260) oder zum Epigrammtiker John Owen (1563-1622). Wie nebenbei pflicht K. immer wieder interessante Details zur Situation der jeweiligen Zeit in seine Ausführungen ein.
Das dritte Kapitel stellt das Thema Recht in den Vordergrund, das im Lateinunterricht unserer Zeit meist gar nicht oder nur in Ausnahmen vorkommt, offensichtlich, weil die meisten Klassischen Philologen nicht Juristen sind. Für K. stellt die Leistung der Römer auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft und die Systematisierung des Rechts nach ihren Vorgaben „eine ihrer größten eigenständigen geistigen Leistungen“ dar (69). Er spannt den Bogen im Abschnitt Geschichte (69-76) von der ältesten Kodifikation des römischen Rechts (Zwölftafelgesetz, 450 v. Chr.) bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB, 1900). Intensiv befasst sich K. mit der lateinischen Rechtssprache (76-82) und unterstützt seine Darlegungen mit einigen Textbeispielen. Gelobt werden mit voller Berechtigung die Prägnanz und das Streben nach einem knappen und bedeutungsvollen Ausdruck (82). Als Beispiele nennt K. etwa die Tendenz das Simplex anstelle des Kompositums (quaerere anstatt acquirere) oder das Asyndeton zu verwenden (emptio venditio, Kauf, Verkauf). Auch zahlreiche „lateinische Phrasen und »Rechtssprichwörter«“ werden heute noch genutzt (rebus sic stantibus – solange die Umstände so bleiben; oder Ne ultra petita - »[Der Richter darf] nicht über das [von den Streitparteien] Verlangte [hinausgehen]«, 82).
Im vierten Kapitel erörtert K. Aspekte des Themas: Religion. Nach einem geschichtlichen Überblick (84-88) stellt er verschiedene Arten des Kirchenlateins (88-90) und speziell die lateinische Bibel (90-95) vor. Der Wortschatz der lateinischen Bibel unterscheidet sich teilweise erheblich von dem der klassischen lateinischen Literatur; so wird ēsse (essen) durch manducare ersetzt, das sich später zu manger (frz.) und mangiare (ital.) entwickelt hat. Auf dem Gebiet der Syntax gibt es ebenfalls auffällige Differenzen, denn eindeutig herrscht die Parataxe (Hebraismus) vor im Gegensatz zur Hypotaxe der klassischen Diktion (92/93). Den Schlussakkord bilden Gedanken zur Liturgie (95-98).
Im Kapitel Wissenschaft tut K. kund, dass zunächst das Griechische die Sprache der Wissenschaft war, wie philosophische Texte von Platon und Aristoteles, sogar später noch von Marc Aurel, medizinische Ausgaben von Hippokrates und Galen und mathematische Publikationen von Euklid und Archimedes bezeugen (99). Die besondere Übersetzungsleistung Ciceros wird gewürdigt, der zahlreiche philosophische Fachbegriffe ins Lateinische übertrug (Lehnübersetzungen), aber auch Lukrez realisierte auf dem Gebiet der Physik Epikurs wichtige Transformationen ins Lateinische, ebenso wie dies Aulus Cornelius Celsus auf dem Gebiet der Medizin gelang (100). Auch für die Spätantike gibt es eine Reihe von Beispielen, bei denen griechisch formulierte Texte auf Latein verfügbar gemacht wurden (Martianus Capella, Priscian und Isidor von Sevilla).
Im Unterabschnitt Die Neuzeit: die Wissenschaftliche Revolution (104-107) übermittelt K. Informationen darüber, dass seit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg die meisten Bücher bis ins 18. Jahrhundert auf Latein erschienen. Sie ließen sich in ganz Europa verkaufen. Der Anfang der Wissenschaftlichen Revolution wird allgemein auf das Jahr 1543 datiert (106). Es wurden Schriften von Vesalius (Humani corporis fabrica/Der Bau des menschlichen Körpers, 1543), Kopernikus (De revolutionibus orbium/Die Umdrehungen der Himmelssphären, ebenfalls 1543) und Kepler (Astronomia nova/Neue Astronomie, 1609) publiziert (106). Ein weiterer Unterabschnitt trägt den Titel: Wissenschaftsliteratur, Wissenschaftslatein (108-111). Es werden einige Beispiele wichtiger Titel genannt, die auf Latein verfasst wurden. Auch wenn in der Zeit seit dem 18. Jahrhundert immer weniger Schriften auf Latein ediert wurden, ist aber diese Sprache „als Terminologie durchaus präsent geblieben“ (113). Man denke nur an die Nomenklatur auf Gebieten wie Anatomie, Pharmakologie und Biologie.
Im letzten Abschnitt Ausblick (115-119) gesteht K. ein, keine Aussagen zur Zukunft des Latein machen zu können, vielmehr versucht er zu verdeutlichen, was nicht passieren wird: Trotz einiger Bestrebungen wird Latein „nie wieder die lingua franca der Gebildeten werden“ (118). Positiv klingen gleichwohl folgende Gedanken des Autors: Latein wird „aber auf absehbare Zeit auch nicht in Vergessenheit geraten und seine Erforschung nicht zum Stillstand kommen“ (118).
Als Fazit ergibt sich, dass Martin Korenjak ein Buch mit vielen Facetten zur Geschichte der lateinischen Sprache und Literatur verfasst und sich dabei eines flüssigen und gut lesbaren Stils bedient hat. Die Leserinnen und Leser erfahren viele interessante Details. Unterstützt werden die Ausführungen durch mehrere Karten, in schwarz-weiß-gehalten, die die Darlegungen visuell illustrieren. Wer weitere Aspekte und Themen vertiefend behandeln möchte, kann auf die im Literaturverzeichnis abgedruckten Hinweise zurückgreifen. Denjenigen, die bei Diskussion über den Wert der lateinischen Sprache mitreden möchte und die sich für die Geschichte dieser Sprache interessieren, sei dieses Opusculum mit Nachdruck zur intensiven Lektüre empfohlen.
Rezensent: Dietmar Schmitz
Juni 2025
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- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Jasmine Mas, Blood of Hercules. Berühre sie und stirb. Düsterer Roman. Villains of Lore, Band 1. Übersetzt von Julia Schwenk und Kira Wolf-Marz, Frankfurt am Main (S. Fischer Verlag) 2025, 608 Seiten, 25,00 € (Englische Originalausgabe: Blood of Hercules, London 2024).
Das Buch wurde, da es erst am 23. April 2025 in Deutsch erschien, auf Englisch gelesen. Somit kann über die Übersetzungsqualität dieser Ausgabe keine Aussage getroffen werden.
Die 27-jährige Autorin Jasmine Mas studierte laut Eigenaussage auf Ihrer Homepage Altertumswissenschaften an der Georgetown University und schreibt besonders gerne dark enemies to lovers romantasy Bücher, die moralisch graue Männer, sarkastische Frauen und eine slow-burn Beziehung beinhalten. Diese Kombination, die mit den Worten „düsterer Romantasy-Bestseller mit Blut, Spice und Tränen“ angepriesen wird, hat es nun tatsächlich geschafft, BookTok (den bibliophilen Teil des sozialen Netzwerkes TikTok) zu erobern und Interesse an der griechisch-römischen Mythologie zu wecken.
Die dystopische Geschichte beginnt im Jahr 2090: Wir lernen aus Sicht des Kindes Alexis Hert ihre Welt kennen. Sie lebt in einer Wohnwagensiedlung bei Adoptiveltern, die sie denkbar schlecht behandeln. Nichtsdestotrotz bekommt die Familie Zuwachs, den Jungen Charlie. Dieser ist vorerst Alexis‘ einziger Freund, da sich ihr Status und ihr Desinteresse an menschlichem (Körper-)Kontakt auf ihre sozialen Kontakte auswirken. Allerdings schließt sie innige Freundschaft mit der Schlange Nyx, die ihr nicht von der Seite weicht und mit der sie sogar reden kann, obwohl niemand außer ihr sie sehen kann.
Nach einem Zeitsprung wird auch der chaotische Zustand der Welt im Allgemeinen deutlich: Die Menschen befinden sich im Kriegszustand. So kommen auch Alexis‘ Adoptiveltern bei einem Angriff ums Leben. Folgend müssen Alexis und ihr Bruder sich allein durchschlagen. Während die bösen Titanen die Menschen und Götter – hier: Spartaner – bedrohen, versuchen Götter für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wichtig ist hierbei zudem die Unterteilung der Götterhäuser in olympisch (deren göttliche Kräfte ihre eigenen körperlichen oder mentalen Fähigkeiten verstärken) und chtonisch (deren Kräfte sich wiederum nur auf das Zufügen von Leid und Schaden anderer konzentrieren).
Eine Verbindung der beiden Welten kommt zustande, als sich nach einem weiteren und größeren Zeitsprung bei ihren Abschlussprüfungen herausstellt, dass Alexis selbst ein Götterspross ist. Ein Mischling, der allerdings nie von einem Gott oder einer Göttin als legitimiertes Kind angenommen wurde. Dies führt dazu, dass sie umgehend ihre Frau stehen und mit 49 Männern – denn die Götter haben derweil ein Fortpflanzungsproblem – um die Aufnahme in der spartanischen Kriegsakademie in den Dolomiten kämpfen muss. Auf wunderhafte Weise und ohne jeden Überlebenswillen schafft es Alexis und muss sich im folgenden Jahr gemeinsam mit neun anderen, die sich behauptet haben, würdig erweisen, an ihrem 21. Geburtstag unsterblich zu werden. Und das ist alles andere als einfach: Es entpuppen sich die Unterrichtsmethoden, ihre Kommilitonen und Lehrer als lebensgefährlich. Jeweils zwei Wochen lang erlebt sie Unterricht ohne Essen, Trinken oder Schlaf, dafür aber mit einer Menge körperlicher Ertüchtigung und Demütigung. Darauf folgen zwei Wochen der „Erholung“, die sie bei ihren Mentoren, den chtonischen Göttern Achill und Patro, verbringt.
Wird Alexis überleben? Welche Fähigkeit wird sie entwickeln? Zu welchem magischen Tier wird sie im Laufe des Jahres eine Bindung aufbauen? Wird sie als Frau respektiert werden und mit den Männern mithalten können? Welcher Gott bzw. welche Göttin wird sich am Ende als ihre Familie offenbaren? Welche(r) der vielen Interessenten schafft (schaffen) es, sie und ihren Körper für sich zu gewinnen und sie in die obligatorische Ehe zu führen? Und… was geschieht im zweiten Band?
Der Inhalt dieser Geschichte hält, was er als Bestseller verspricht und verbindet auf völlig neue Weise Elemente der griechischen Mythologie mit den beliebtesten Themen und Topoi unserer Zeit. Doch jede*r klassische Philologe*in sei gewarnt: Neben sehr freier Umdichtung kommt die lateinische Sprache zwar tatsächlich zu Wort, doch nur ein einziges Mal ist der Inhalt fehlerfrei übersetzt. Ummit dem Motto zu schließen, das dem Buch vorangestellt wird: Fides est periculosa ludum!
Anna Stöcker, Bergische Universität Wuppertal


