Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie, Kunst, Geschichte, hrsg. von Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart 2/2024, Christliche Häresien. Ringen um den richtigen Glauben, 80 S., 12,80 Euro
Der Begriff Häresie evoziert die Vorstellung von nicht tolerierten Ausrichtungen des christlichen Glaubens. Den Beginn dieser Füllung des ursprünglich neutralen griechischen Begriffs sehen Chr. Blumenthal (Das Neue Testament plädiert für theologische Diversität – Einzelschriften können auch anders … S. 11) und Chr. Hornung („Häretiker – gottlos, schwatzhaft und listig" S. 14-17) schon im Briefcorpus des Neuen Testaments bzw. bei Iustinus Martyr und Hippolytus von Rom im 2. Jh. nC. Mit noch negativerer Konnotation sprach man sogar von Ketzerei und stigmatisierte Abweichungen von mehrheitlich akzeptierten Glaubensüberzeugungen durch massive Polemik. Diese Zusammenhänge aus heutiger Sicht auch mit dem unbelasteten Begriff Heterodoxie (Chr. Handschuh, S. Huebenthal, M. Weißer, Auf der Suche nach christlicher Identität, S. 8f.) auf eine sachlichere Beurteilungsgrundlage zu stellen, hat sich das zweite Heft 2024 der genannten Zeitschrift zur Aufgabe gestellt: […] „belegt die Fülle der später als häretisch eingestuften und verurteilten Glaubensrichtungen, wie sehr Menschen auf dem Weg waren, gesucht und darum gerungen haben, was es heißt, an Jesus Christus und seinen Gott zu glauben“ (B. Leicht, Editorial, S. 1)
Dieses lebendige Ringen um die frühchristliche Entfaltung von Glauben und Konstituierung einer eigenen Identität veranschaulicht zunächst die schematisierte Übersicht über 20 Hauptströmungen früher Heterodoxien aus der Feder von Studierenden der Universität Passau (So viele Glaubensrichtungen wie Gläubige? S. 20-27). Sie lassen sich nach trinitätstheologischen, christologischen, soteriologischen, ekklesiologischen, asketischen und gnostischen Kriterien gliedern sowie nach ihrem Umgang mit jüdischem Erbe.
Bis in unsere Zeit dürfte der Streit um die Natur Christi, verknüpft mit den Namen der Alexandriner Alexander und Athanasios einerseits und des Arius andererseits, der bekannteste geblieben sein, also um Homousie oder Homöusie. Ihm widmet U. Heil (Keineswegs nur eine theologische Streitfrage, S. 36-41) eine ausführliche Darstellung und zeichnet darin das Entstehen des bis heute üblichen Glaubensbekenntnisses auch unter Berücksichtigung der politischen und sozialen Zeitumstände während der Konzile von Nicäa 325 und Konstantinopel 381-383 nach.
Nicht einmal zwei Generationen später erschütterte ein neuer christologischer Konflikt die Reichshauptstadt. Das Epitheton Marias, Theotokos, Gottesgebärerin, erregte Anstoß bei Anastasios und Nestorios. Sie lehnten den Titel ab, weil er die Göttlichkeit Christi in Frage stelle; Nestorios schlug stattdessen die Bezeichnung Christotokos vor. Seine Gegenspieler, Kyrill von Alexandria und Papst Coelestinus I. hingegen ziehen ihn, eine gottlose Lehre zu vertreten, indem er Christus zu einem gewöhnlichen Menschen herabwürdige. Mit dieser Argumentation setzten sich schließlich Kyrill und Memnon von Ephesus beim Konzil von Ephesus (431 nC), zu dem Kaiser Theodosius II. geladen hatte, durch und bewirkten die Exkommunikation des Nestorios und seine Absetzung als Patriarch von Konstantinopel. Neben den zur Entscheidung anstehenden theologischen Fragen, deren Lösung eine allgemein verbindliche Basis des Glaubens wiederherstellen sollte, schildert Chr. Lange (Nestorius war kein „Nestorianer", S. 48-53) auch die allzu weltlichen Umstände der Bischofsversammlung, die zur Verurteilung des Nestorios führten.
Gnostikoi bezeichnete nach Irenaeus und Porphyrius Menschen, die ihre Erlösung durch eine Erkenntnis zu erlangen suchten, die ihnen ein himmlischer Vermittler zukommen lasse. Zu dieser Vorstellung gehört nach J. Schröter (… die nach Erkenntnis suchen, S. 28-34) ein theologisches System, das zwischen einem oberen und einem niederen Gott unterscheidet, die Entstehung von Welt und Mensch durch einen kosmischen Mythos erklärt und vor allem platonische Entwürfe einbezieht. Als ihre Hauptvertreter stellt der Verfasser Basilides von Alexandria, Valentinus von Rom, Markion und „etliche Schriften aus Nag Hammadi“ vor.
Das Ringen um Rechtgläubigkeit und eine auch seitens der Kaiser politisch gewollte Einheitlichkeit des christlichen Glaubens führte für die Verfechter von Heterodoxien zu Exkommunikation, Amtsenthebung und Verbannung, aber auch zu darüber hinausgehenden Opfern. Musste sich etwa Nestorios noch nach Oberägypten ins Exil zurückziehen, wurde Priscillianus trotz Protests seitens des Papstes Siricius, des Ambrosius von Mailand und des Martinus von Tour 385 nC in Trier von einem kaiserlichen Gericht zusammen mit einigen Anhängern wegen Magie, Unzucht und Manichäismus zum Tode verurteilt. Die Einzelheiten des theologischen Streits und der politischen Umstände stellt W. Löhr (Das erste Todesurteil für Häretiker, S. 44-47) differenziert dar.
Neben derartigen tatsächlichen Verurteilungen entwickelte sich aber auch eine Tradition, Todesfälle von wegen Häresie Verurteilten als Gottesurteile erscheinen zu lassen. A Müller („Durch den Einsturz der Badestube getötet“, S. 42f.) stellt die Inszenierung eines unwürdigen Todes von Arius und Ebion in der Sicht des Kronstädter Reformators Valentin Wagner in seinem Katechismus von 1550 vor: Arius sei bei einem Toilettenbesuch niedergestürzt und in zwei Teile zerborsten, Ebion beim Einsturz eines Bades wegen seiner Gottlosigkeit ums Leben gekommen.
Dieser Beitrag führt mitten in die Problematik der Diffamierung von denjenigen, deren Glaubensinhalte keine mehrheitliche Anerkennung fanden oder von einer schon etablierten Hauptströmung abwichen. Die Polemik, die in solchen Kontroversen zur Anwendung kam und in der Literatur reichlicher überliefert ist als die Heterodoxien selbst, entspricht zwar der antiken rhetorischen Tradition, erscheint aber aus heutiger Sicht oft wenig nachvollziehbar. Das mag vielleicht der Grund dafür sein, dass von diesem Aspekt der theologischen Auseinandersetzungen im frühen Christentum in den hier vorgestellten Beiträgen kaum die Rede ist. Für diejenigen Leserinnen und Leser aber, die sich auch diesen Aspekt christlicher Auseinandersetzungen und Argumentationen erschließen möchten, weil er belegt, wie sehr das Christentum Teil der antiken Kultur ist, sei etwa I. Opelt, Die Polemik in der christlichen lateinischen Literatur von Tertullian bis Augustin, Heidelberg 1980 empfohlen. Eine Übersicht über weitere einschlägige Literatur ist bei M. Wissemann, Art. Schimpfwörter, https://www.telemachos.hu-berlin.de/latlex/s7.html verfügbar. Die Verflechtung des jungen Christentums mit der es umgebenden paganen Zivilisation akzentuiert auch der Zusammenhang von christlicher Identitätsstiftung und Konstituierung verbindlicher Glaubensüberzeugungen, die wie in der paganen Umwelt durch Diskussion und Differenzierung gewonnen wurden.
Besonders in dieser Hinsicht vermittelt das Thema des Heftes ein tieferes Verständnis all der Kontroversen im frühen Christentum, die unter dem Etikett Ketzerei und Häresien geführt wurden. Denn diese Heterodoxien, die man gemeinhin allzu oft nur aus der Perspektive der jeweils obsiegenden Partei kennt, werden einer objektiveren und gerechteren Beurteilung zugeführt und lassen dadurch das Heft für diejenigen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen wollen, zu einer bereichernden Einstiegslektüre werden.
Michael Wissemann