Neuerscheinung des Monats
November 2024
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Hose, M., Formen und Funktionen griechisch-römischer Literatur. Aufsätze zur Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. Von Annamaria Peri und Tobias Thum. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023. EUR 99,- (ISBN 978-3-515-13411-8)
Im Vorwort erfahren die Leserinnen und Leser von den beiden Herausgebern Annamaria Peri und Tobias Thum, welchen Themen und Arbeitsgebieten sich Martin Hose (H.), Professor für griechische Philologie an der Universität München, in seinen Qualifikationsschriften gewidmet hat: den Werken des Euripides und der griechisch-römischen Geschichtsschreibung (Vorwort). Die in dem Band versammelten Beiträge verstehen sich als „Vertiefungen und Erweiterungen“ zu den „grundlegenden literaturgeschichtlichen Überblicken“ von H. (Vorwort). Dazu gehören unter anderem folgende Werke: Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike. München 1999; Art. „Literatur III. Griechisch“, in: Der Neue Pauly, Bd. 7, 1999, Sp. 272-288; Art. „Poesie I (Gattung und Dichtungstheorie)“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 27, 2016, Sp. 1055-1104 sowie „Poesie III (Dichter)“, ebenda, Sp. 1153-1185. Das Buch enthält sechs Rubriken mit 41 Abhandlungen, gefolgt vom Abschnitt: Publikationshinweise (618-620) und dem Register (621-634). Da ich aus Platzgründen nur auf wenige Beiträge eingehen kann, möchte ich den Blick schwerpunktmäßig auf Erstpublikationen lenken, ohne weitere Abhandlungen ganz aus den Augen zu verlieren.
Die erste Rubrik trägt den Titel: A. Funktionen und Formen der griechischen Literatur (1-131). Gleich der erste Aufsatz befasst sich mit zwei grundlegenden Texten der griechischen Literatur: „Vom Nutzen der Widersprüchlichkeit oder Welchen Sinn hatten Ilias und Odyssee für die griechische Kultur“ (3-19). H. weist zu Beginn seiner Ausführungen mit voller Berechtigung auf das Faktum hin, das am Anfang der griechischen Literatur zwei Texte entstanden, „die bis zum Ende dieser Literatur unangefochten als deren Spitzenprodukt gelten konnten. Ja, mehr noch: die Ilias und die Odyssee stellten von der Archaik bis zum Fall Konstantinopels 1453, also für mehr als 2000 Jahre, buchstäblich die Referenztexte der griechischen Literatur dar“ (3).
Im Gegensatz zum Pentateuch und dem Judentum, dem Neuen Testament und den Christen sowie dem Koran und der islamischen Welt stellen die beiden Epen keine normativen und schon gar keine heiligen Texte dar. Es handelt sich um „lebensgesättigte Erzählungen“, die dem Mythenkreis Trojas entnommen wurden (3). In beiden Texten lassen sich „diametral entgegengesetzte Weltverständnisse narrativ explizieren“ (17), in der Odyssee garantieren die Götter eine gerechte Welt, in der Ilias sind die Götter unberechenbar gegenüber den Menschen. H. verwendet in seiner Darstellung kurze Abschnitte aus den homerischen Epen, stets im griechischen Original, aber auch mit einer deutschen Übersetzung, um seine Thesen zu untermauern. Zugleich ist er erfolgreich bemüht die Leserinnen und Leser auf den aktuellen Forschungsstand zu bringen, an dessen Diskurs er maßgeblich beteiligt ist. H. bedient sich hier wie auch in den anderen Abhandlungen eines gut lesbaren Stils, erläutert seine Thesen nachvollziehbar und bietet am Ende des Aufsatzes Hinweise auf die benutzte Literatur.
In weiteren Beiträgen der Rubrik A thematisiert H. zum Beispiel das Problem der Originalität in der griechischen Literatur, geht auf methodische Fragestellungen und auf das Verhältnis vom lyrischen Ich und der Biographie des Lyrikers ein.
Die zweite Rubrik trägt die Überschrift: B. Epochensignaturen (in) der Literatur (133-214). Nach H.‘s Auffassung ist es eine der Aufgaben von Literaturgeschichtsschreibung „zwischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten angemessen zu gewichten, um hermeneutisch brauchbare Epochen konturieren zu können“ (135). Diese Überlegungen sind vor allem für die Zeit des Hellenismus relevant. Die Forscherinnen und Forscher der Philologie haben die Abgrenzung dieser Epoche von der Geschichtswissenschaft übernommen und waren gezwungen, sie „als literarhistorischen Zeitraum (…) zu konturieren“ (135). H. arbeitet heraus, dass von einem „Rückzug ins Private“ (…) „als Signatur der hellenistischen Literatur“ nicht die Rede sein kann (149). Des Weiteren prüft H. die Position der Dichtkunst im Reich der ersten Ptolemäer, analysiert den Bedeutungsverlust der institutionellen Rhetorik im vierten Jahrhundert, wendet sich dem Wirken Klemens von Alexandrien zu, wobei es um die Grenze zwischen Christen- und Heidentum geht, und stellt die Frage, ob es eine Konstantinische Literatur gibt.
Der wechselseitigen Rezeption römischer und griechischer Literatur gilt die Rubrik: C. (215-297). Während in der Rubrik: D. Gattungen und Schreibweisen im Vordergrund stehen (299-356), sind in der Rubrik: E. Literarische Konstruktionen Ziel der Untersuchungen (357-452). Insbesondere Julian Apostata steht mit zwei Beiträgen im Zentrum der Überlegungen. Da mit diesem Kaiser ein Ausnahmefall vorliegt, weil er eine Rückkehr zum Heidentum unternahm (vgl. R. Pfeilschifter, Julian: Rückkehr zum Heidentum, in: Ders., Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher, München 2014, 90-100), zieht der folgende Beitrag ein spezifisches Interesse auf sich: „Kaiserliche Selbstentwürfe: Julian Apostata“ (393-417). Von diesem Kaiser stammen mehr Texte als von jedem anderen seiner Vorgänger. H. listet die Texte (Reden, Traktate, Briefe und Epigramme, daneben weitere Fragmente) auf (393). Er geht von einem Abschnitt aus Aurelius Victors Liber de Caesaribus (cap. 42, 20-25) aus, der an Julians Vorgänger Constantius II orientiert ist und sich deshalb als Folie eignet, da er wahrscheinlich 360 verfasst wurde und damit „ein zeitgenössisches Streiflicht auf die Anforderungen an einen Kaiser wirft“ (345). H. stellt acht Anforderungen zusammen, die sich aus dem Text des Aurelius Victor ergeben (396) und vergleicht sie mit den Selbstaussagen Julians in verschiedenen seiner Schriften.
Diese verlangten Kriterien können zwei Bereichen zugeordnet werden, nämlich den „persönlichen physischen und psychischen Eigenschaften“ und den „Fähigkeiten, die für eine ‚erfolgreiche‘ Amtsführung erforderlich sind“ (396). H. erläutert seine Perspektive unter Verwendung von mehreren Unterabschnitten, in denen der „ungefährliche Caesar“ (298ff.), der „gerechte Usurpator“ (400ff.), der „Beschützer des Reiches“ und der „Schützer der Ordnung“ (403-408), der „Oberpriester“ (408-410), der „Kaiser als πεπαιδευμένος“ (410-413) sowie die „Eigenschaften eines Kaisers“ thematisiert wurden (413-414).
Vergleicht man die Anforderungen Aurelius Victors mit den Selbstaussagen Julians scheint der Kaiser über fast alle erforderlichen Qualitäten zu verfügen, wobei lediglich ein Aspekt offenbar ausgeblendet wurde, nämlich seine praktischen militärischen Kompetenzen.
Die Rubrik F. Philologie: Konzepte, Methoden und Personen (453-617) enthält gleich drei Erstpublikationen. Der Titel des ersten dieser drei Aufsätze lautet: „Altertums- oder Literaturwissenschaft? Chancen und Gefährdungen der Gräzistik“ (486-499). Zu Beginn skizziert H. in gebotener Kürze die Entwicklung bei der Besetzung von gräzistischen Lehrstühlen in Deutschland (und Österreich) und muss konstatieren, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten heute oft nur eine einzige Forscherin/ein einziger Forscher einen Lehrstuhl innehat und dass bei Neugründungen (etwa wie in Augsburg, Bielefeld, Braunschweig/Osnabrück und Wuppertal) ganz auf die Berufung einer Professorin/eines Professors für Gräzistik verzichtet wurde. Sodann geht H. auf die innere Entwicklung des Faches Griechisch an Universitäten bis in die aktuelle Gegenwart ein.
- H. behandelt die Leistungen einiger Fachvertreter (K. Reinhardt, P. Friedländer, W. Schadewaldt, A. Lesky, H. Erbse, um nur einige wenigen Namen zu nennen) und skizziert das Verhältnis des Faches Griechisch zu anderen Disziplinen wie Latinistik, Philosophie, Theologie, Medizin, Jurisprudenz und Theaterwissenschaften (499ff.). Es stellt sich dabei die Frage, ob die Gräzistik sich mehr als Altertums-, Kultur- oder Literaturwissenschaft versteht. H. plädiert dafür, dass das von ihm vertretene Fach seine „methodologische Basis“ erweitert bzw. modernisiert anstatt auf dem Status Quo zu verharren (497).
Gleichwohl möchte H. nicht „die traditionellen Kenntnisse an Sprache und Literatur aufgeben“ (499). Er ist Realist und erkennt sehr wohl, dass es „uns die Literaturwissenschaften auch nicht leicht machen, „aus ihrem Angebot an Theorien und Methoden zu wählen“ (499). Humor zeigt H. mit folgender abschließender Bemerkung: „Vieles ist und bleibt für uns unverständlich, weil wir die jeweiligen Sprachen der Theorien nicht genügend kennen; bei vielem kommt hinzu, dass uns der Verdacht beschleicht, dass es nicht nur für uns unverständlich ist“ (499).
Auch der folgende Beitrag ist als Erstpublikation ausgewiesen: „Vergleichen als wissenschaftliche Methode und kulturelle Praxis in der griechischen Welt. Möglichkeiten und Grenzen eines Verfahrens“ (500-517). In der griechischen Kultur spielte das Vergleichen bei Agonen und taxonomischen Ordnungen eine extrem wichtige Rolle (500). H. erläutert seine methodische Vorgehensweise und kommt dann „zu einer systematischen Betrachtung des Vergleichs als wissenschaftliche Methode“ (504). H. erinnert daran, dass in fast „allen Bereichen der Lebensäußerungen Vergleichungen auftauchen“ (507). Aristoteles stellt in der Politik politische Systeme gegenüber, ebenso tut dies Polybios in seinem Geschichtswerk, Plutarch vergleicht Dichter und Politiker, Griechen werden mit Personen anderer Völker verglichen usw. (507). H. stellt dann im weiteren Verlauf seiner Darlegungen mehrere literarische Texte vor, die in diesem Themenbereich angesiedelt sind (Vergleiche bei Homer, Platons Symposion, Abschnitte aus Herodot und Ammianus Marcellinus). Die nachfolgenden Beiträge sind in der Regel Nachrufe auf bekannte Fachvertreterinnen /Fachvertreter (U. von Wilamowitz-Moellendorff, E. Schwartz, F. Dölger, B. Snell, K. von Fritz, U. Hölscher, J. de Romilly, W. Bühler, W. Burkert und E. Vogt). Da die Ausführungen zu Uvo Hölscher als Erstpublikation deklariert sind, möge ein kurzer Blick darauf gestattet sein. Wie in anderen Beiträgen dieser Art liefert H. Grunddaten zur Biographie und beschreibt dann die Leistungen im Einzelnen. Im Gegensatz zu den anderen Persönlichkeiten des Faches gibt H. zu, U. Hölscher kaum gekannt zu haben; daher greift er auf Informationen von Hölscher selbst und auf Nachrufe anderer zurück. Neben den Publikationen des Geehrten werden zahlreiche zeitgeschichtliche Details genannt, um das Wirken von Hölscher besser einordnen zu können. Die Leserinnen und Leser erfahren nicht nur wichtige Einzelheiten eines bedeutenden Vertreters des Faches, sondern auch zahlreiche Informationen über die Entwicklungsgeschichte der Gräzistik.
Abschließend kann konstatiert werden, dass H. klare Vorstellungen entwickelt hat, welche Ziele eine griechische Literaturgeschichte in der heutigen Zeit verfolgen soll und wie das Konzept dazu aussehen kann. Der von H. gewählte zeitliche Rahmen erstreckt sich von der homerischen Epik bis in die Zeit der frühen christlichen Literatur (etwa: Synesios von Kyrene) und bleibt nicht in der Epoche des Hellenismus stehen (323 bis 30 v. Chr.) – wie viele frühere Literaturgeschichten.
H. legt Perspektiven für eine griechische Literaturgeschichte vor, die die Relevanz der griechischen Texte für die allgemeine Literaturwissenschaft wie auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Altertumswissenschaft hervorhebt. Wer diesen Band gründlich durchgearbeitet hat, ist auf dem neuesten Forschungsstand der Gräzistik.
Dietmar Schmitz
Oktober 2024
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Johannes Breuer, Jochen Walter (Hrsg.), Violence in Antiquity. Religious Approaches to its Legitimation and Delegitimation, Stuttgart (Steiner) 2023, 42,00 Euro, ISBN 978-515-13450-7
An dieser Stelle einen wissenschaftlichen Tagungsband vorzustellen, dessen Beiträge überwiegend in englischer Sprache gehalten sind, mag der Rechtfertigung bedürfen. Doch leider ist das Thema der religiösen Legitimation (oder Delegitimation, aber das macht den geringeren Teil der Beispiele aus) von beklemmend ungebrochener Aktualität. Schon die Herausgeber beginnen ihr sorgfältig alle terminologischen Fragen abwägendes (in deutscher und englischer Sprache abgedrucktes) Vorwort mit einer Aufzählung von Gewalttaten der letzten Jahrzehnte, für die von den Akteuren selbst oder von dritter Seite eine religiöse Rechtfertigung vorgebracht wurde. Dass diese Liste seit der Tagung aus dem Jahr 2019, die dem Buch zugrunde liegt, und seit seinem Erscheinen länger geworden ist, muss man betrübt konstatieren. Den klugen definitorischen Überlegungen zu Religion und Gewalt kann man zum ersten Begriff insbesondere den Hinweis auf das scheinbare Paradox entnehmen, dass es zwar in der Antike keinen Terminus gibt, der unserer ‚Religion‘ entspräche, das Phänomen als solches aber Zusammenleben und Alltag, eben ohne einen eigenen Bereich zu bilden, in einem Maß durchdringt, dass aus gegenwärtiger Sicht erstaunlich erscheint. Die Beiträge sind chronologisch geordnet: Zunächst stellt Alexandra Eppinger die Prozesse gegen Anaxagoras, Diagoras und Protagoras vor, denen ‚Gottlosigkeit oder Asebie vorgeworfen wird, ohne dass man von Atheismus im gegenwärtigen Sinn sprechen könnte. Die Haltung der antiken Texte zum Vorgehen gegen dies Genannten lässt einen umfassenden Konsens über die Relevanz von Religion in antiken Gesellschaften erkennen. Iris Sulimani zeichnet nach, wie Diodor in seinem Geschichtswerk gewaltvolles Vorgehen von Göttern und Heroen zur Wiederherstellung der guten Ordnung rechtfertigt. Wegen seines Bezuges auch auf Texte des (Schulautors) Livius mag hier der Beitrag von Andreas Bärtschi bemerkenswert erscheinen: Er untersucht Tötungen zur Entsühnung von schlechten Vorzeichen in Rom. Konkret bezieht er sich auf das Selbstopfer des Marcus Curtius, der sich in einen Erdspalt auf dem Forum stürzt, auf Fälle von Vestalinnen, die nach dem Bruch ihrer Keuschheitsverpflichtung eingemauert werden, der rituellen Tötung von Fremden und der (mit Tötungsabsicht vollzogenen) Aussetzung von intersexuellen Kindern. Zwei Tendenzen lassen sich beobachten: Anlass der Gewalt ist eine umfassende gesellschaftliche Verunsicherung, z.B. durch Kriege oder andere bedrohlich empfundene Ereignisse. Und die Gewalt gegen andere (Ausnahme ist das Selbstopfer des Curtius) wird indirekt vollzogen; im Fall der Vestalinnen betont Livius die rituelle Notwendigkeit, während die anderen Fälle (Tötung von fremden und intersexuellen Kindern) tendenziell vom römischen Religionsbrauch abgerückt werden. Der Aufsatz von Kimberly B. Stratton stellt Texte vor, die das gewaltsame Vorgehen der Römer gegen die Juden rechtfertigen - aus christlicher Sicht argumentiert Justin, aus jüdischer Flavius Josephus. Die letzten drei Beiträge haben Texte zum Gegenstand, die sich mit gewaltsamem Handeln von Christen beschäftigen. Marcela Caressa bietet eine differenzierte Analyse einer Episode aus der Kirchengeschichte des Rufinus, in der von der Zerstörung eines Kultbildes in - so die These der Verfasserin - bereits vorchristlicher Zeit. Die Hinwendung des Augustinus zu einer Befürwortung von Gewalt im Umgang mit den Donatisten als vom Christentum abweichende Gruppe untersuchen Maijastina Kahlos und Liliane Marti. Am Ende steht ein Beitrag von Kathleen M. Kirsch, die aufzeigt, wie der christliche Dichter Prudentius in seiner Psychomachie die martialische (Bürger-)Kriegstopik aus der römischen epischen Tradition überführt in eine Darstellung des Kampfes der Tugend gegen das Laster, die das Gewaltsame als zum Guten des Menschen dienend erweisen will. - Der Band ist ein vorzügliches Beispiel, wie solide philologische Arbeit an Texten nicht nur zu erhellenden Einzelresultaten, sondern auch zu Einsichten führt, die zum Verständnis (und damit zur Lösung) gegenwärtiger Konfliktsituationen beitragen können.
Stefan Freund
September 2024
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Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie, Kunst, Geschichte, hrsg. von Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart 2/2024, Christliche Häresien. Ringen um den richtigen Glauben, 80 S., 12,80 Euro
Der Begriff Häresie evoziert die Vorstellung von nicht tolerierten Ausrichtungen des christlichen Glaubens. Den Beginn dieser Füllung des ursprünglich neutralen griechischen Begriffs sehen Chr. Blumenthal (Das Neue Testament plädiert für theologische Diversität – Einzelschriften können auch anders … S. 11) und Chr. Hornung („Häretiker – gottlos, schwatzhaft und listig" S. 14-17) schon im Briefcorpus des Neuen Testaments bzw. bei Iustinus Martyr und Hippolytus von Rom im 2. Jh. nC. Mit noch negativerer Konnotation sprach man sogar von Ketzerei und stigmatisierte Abweichungen von mehrheitlich akzeptierten Glaubensüberzeugungen durch massive Polemik. Diese Zusammenhänge aus heutiger Sicht auch mit dem unbelasteten Begriff Heterodoxie (Chr. Handschuh, S. Huebenthal, M. Weißer, Auf der Suche nach christlicher Identität, S. 8f.) auf eine sachlichere Beurteilungsgrundlage zu stellen, hat sich das zweite Heft 2024 der genannten Zeitschrift zur Aufgabe gestellt: […] „belegt die Fülle der später als häretisch eingestuften und verurteilten Glaubensrichtungen, wie sehr Menschen auf dem Weg waren, gesucht und darum gerungen haben, was es heißt, an Jesus Christus und seinen Gott zu glauben“ (B. Leicht, Editorial, S. 1)
Dieses lebendige Ringen um die frühchristliche Entfaltung von Glauben und Konstituierung einer eigenen Identität veranschaulicht zunächst die schematisierte Übersicht über 20 Hauptströmungen früher Heterodoxien aus der Feder von Studierenden der Universität Passau (So viele Glaubensrichtungen wie Gläubige? S. 20-27). Sie lassen sich nach trinitätstheologischen, christologischen, soteriologischen, ekklesiologischen, asketischen und gnostischen Kriterien gliedern sowie nach ihrem Umgang mit jüdischem Erbe.
Bis in unsere Zeit dürfte der Streit um die Natur Christi, verknüpft mit den Namen der Alexandriner Alexander und Athanasios einerseits und des Arius andererseits, der bekannteste geblieben sein, also um Homousie oder Homöusie. Ihm widmet U. Heil (Keineswegs nur eine theologische Streitfrage, S. 36-41) eine ausführliche Darstellung und zeichnet darin das Entstehen des bis heute üblichen Glaubensbekenntnisses auch unter Berücksichtigung der politischen und sozialen Zeitumstände während der Konzile von Nicäa 325 und Konstantinopel 381-383 nach.
Nicht einmal zwei Generationen später erschütterte ein neuer christologischer Konflikt die Reichshauptstadt. Das Epitheton Marias, Theotokos, Gottesgebärerin, erregte Anstoß bei Anastasios und Nestorios. Sie lehnten den Titel ab, weil er die Göttlichkeit Christi in Frage stelle; Nestorios schlug stattdessen die Bezeichnung Christotokos vor. Seine Gegenspieler, Kyrill von Alexandria und Papst Coelestinus I. hingegen ziehen ihn, eine gottlose Lehre zu vertreten, indem er Christus zu einem gewöhnlichen Menschen herabwürdige. Mit dieser Argumentation setzten sich schließlich Kyrill und Memnon von Ephesus beim Konzil von Ephesus (431 nC), zu dem Kaiser Theodosius II. geladen hatte, durch und bewirkten die Exkommunikation des Nestorios und seine Absetzung als Patriarch von Konstantinopel. Neben den zur Entscheidung anstehenden theologischen Fragen, deren Lösung eine allgemein verbindliche Basis des Glaubens wiederherstellen sollte, schildert Chr. Lange (Nestorius war kein „Nestorianer", S. 48-53) auch die allzu weltlichen Umstände der Bischofsversammlung, die zur Verurteilung des Nestorios führten.
Gnostikoi bezeichnete nach Irenaeus und Porphyrius Menschen, die ihre Erlösung durch eine Erkenntnis zu erlangen suchten, die ihnen ein himmlischer Vermittler zukommen lasse. Zu dieser Vorstellung gehört nach J. Schröter (… die nach Erkenntnis suchen, S. 28-34) ein theologisches System, das zwischen einem oberen und einem niederen Gott unterscheidet, die Entstehung von Welt und Mensch durch einen kosmischen Mythos erklärt und vor allem platonische Entwürfe einbezieht. Als ihre Hauptvertreter stellt der Verfasser Basilides von Alexandria, Valentinus von Rom, Markion und „etliche Schriften aus Nag Hammadi“ vor.
Das Ringen um Rechtgläubigkeit und eine auch seitens der Kaiser politisch gewollte Einheitlichkeit des christlichen Glaubens führte für die Verfechter von Heterodoxien zu Exkommunikation, Amtsenthebung und Verbannung, aber auch zu darüber hinausgehenden Opfern. Musste sich etwa Nestorios noch nach Oberägypten ins Exil zurückziehen, wurde Priscillianus trotz Protests seitens des Papstes Siricius, des Ambrosius von Mailand und des Martinus von Tour 385 nC in Trier von einem kaiserlichen Gericht zusammen mit einigen Anhängern wegen Magie, Unzucht und Manichäismus zum Tode verurteilt. Die Einzelheiten des theologischen Streits und der politischen Umstände stellt W. Löhr (Das erste Todesurteil für Häretiker, S. 44-47) differenziert dar.
Neben derartigen tatsächlichen Verurteilungen entwickelte sich aber auch eine Tradition, Todesfälle von wegen Häresie Verurteilten als Gottesurteile erscheinen zu lassen. A Müller („Durch den Einsturz der Badestube getötet“, S. 42f.) stellt die Inszenierung eines unwürdigen Todes von Arius und Ebion in der Sicht des Kronstädter Reformators Valentin Wagner in seinem Katechismus von 1550 vor: Arius sei bei einem Toilettenbesuch niedergestürzt und in zwei Teile zerborsten, Ebion beim Einsturz eines Bades wegen seiner Gottlosigkeit ums Leben gekommen.
Dieser Beitrag führt mitten in die Problematik der Diffamierung von denjenigen, deren Glaubensinhalte keine mehrheitliche Anerkennung fanden oder von einer schon etablierten Hauptströmung abwichen. Die Polemik, die in solchen Kontroversen zur Anwendung kam und in der Literatur reichlicher überliefert ist als die Heterodoxien selbst, entspricht zwar der antiken rhetorischen Tradition, erscheint aber aus heutiger Sicht oft wenig nachvollziehbar. Das mag vielleicht der Grund dafür sein, dass von diesem Aspekt der theologischen Auseinandersetzungen im frühen Christentum in den hier vorgestellten Beiträgen kaum die Rede ist. Für diejenigen Leserinnen und Leser aber, die sich auch diesen Aspekt christlicher Auseinandersetzungen und Argumentationen erschließen möchten, weil er belegt, wie sehr das Christentum Teil der antiken Kultur ist, sei etwa I. Opelt, Die Polemik in der christlichen lateinischen Literatur von Tertullian bis Augustin, Heidelberg 1980 empfohlen. Eine Übersicht über weitere einschlägige Literatur ist bei M. Wissemann, Art. Schimpfwörter, https://www.telemachos.hu-berlin.de/latlex/s7.html verfügbar. Die Verflechtung des jungen Christentums mit der es umgebenden paganen Zivilisation akzentuiert auch der Zusammenhang von christlicher Identitätsstiftung und Konstituierung verbindlicher Glaubensüberzeugungen, die wie in der paganen Umwelt durch Diskussion und Differenzierung gewonnen wurden.
Besonders in dieser Hinsicht vermittelt das Thema des Heftes ein tieferes Verständnis all der Kontroversen im frühen Christentum, die unter dem Etikett Ketzerei und Häresien geführt wurden. Denn diese Heterodoxien, die man gemeinhin allzu oft nur aus der Perspektive der jeweils obsiegenden Partei kennt, werden einer objektiveren und gerechteren Beurteilung zugeführt und lassen dadurch das Heft für diejenigen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen wollen, zu einer bereichernden Einstiegslektüre werden.
Michael Wissemann
August 2024
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De Ganni, D. /Freund, S. (Hrsgg.), Das Alte Testament in der Dichtung der Antike. Paraphrase, Exegese, Intertextualität und Figurenzeichnung. Palingenesia Bd. 136. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023, 478 S. EUR 86,- (ISBN 978-3-515-12469-0).
Der hier zu besprechende Band enthält die Vorträge, die auf der internationalen Tagung „Das Alte Testament in der Dichtung der Antike“ vom 23. bis 25. 1. 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal gehalten wurden. Seit den 1970er Jahren erwachte das Forschungsinteresse an der dichterischen Bearbeitung von biblischen Themen und Texten in Antike und Mittelalter. Zunächst wandten sich die Forscherinnen und Forscher verstärkt poetischen Texten zu, die das Neue Testament aufgriffen. Daher lag es nahe, offene Fragen zu behandeln, die das Alte Testament als poetisches Sujet bereithält. Wie ist das Verhältnis zwischen Dichtung und Exegese (Einführung, 9)? Welche Rolle spielen die ausgewählten biblischen Gestalten, Episoden und Texte bei den antiken Dichtern? „Welche lexikalischen und syntaktischen Einflüsse, welche Einzelelemente wie Vergleiche oder Epitheta, welche gedanklichen und argumentativen Strukturen aus dem Alten Testament finden sich in der christlichen Dichtung wieder?“ (Einführung, 9). Wie beeinflusst das Alte Testament „die Entwicklung einer christlichen Dichtersprache?“ (Einführung, 9).
Nach Aussagen der beiden Herausgeber, Donato De Gianni (Professor an der Universität Cagliari) und Stefan Freund (Professor an der Universität Wuppertal), ist die Anordnung der 25 Beiträge weitgehend chronologisch erfolgt (Einleitung, 10). In einigen Aufsätzen stehen alttestamentliche Gestalten im Vordergrund, während andere Beiträge biblische Motive im Blick haben; berücksichtigt werden auch Techniken typologischer Deutungen des Alten Testaments. Die Beiträge sind in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch) verfasst, wie es bei internationalen Tagungen üblich ist. Jeder Beitrag beginnt mit einem Abstract, so dass sich die Leserinnen und Leser einen kurzen Überblick über den Inhalt verschaffen können. Am Ende gibt es jeweils eine Zusammenfassung, daneben ein Literaturverzeichnis. Fast alle Vortragenden haben originalsprachliche Textabschnitte (Griechisch bzw. Latein und eine Übersetzung) integriert, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer bzw. Leserinnen und Leser die jeweiligen Analysen besser nachvollziehen können. An die Einführung (9-12) schließen sich die einzelnen Beiträge an (13-444), die durch ein Register (Bibelstellen, Eigennamen, Schlagworte, Stellen antiker Literatur, 445-478) verknüpft werden. Naturgemäß kann ich nicht auf alle Beiträge intensiv eingehen, ja nicht einmal alle Titel anführen, möchte daher einige Aufsätze kurz vorstellen, ohne die anderen dadurch abzuwerten.
Ich beginne mit dem Beitrag von Stefan Freund: Alttestamentliche Motive in der frühchristlichen lateinischen Hymnendichtung (27-45). Freund prüft vier Texte/Textgruppen, die als sehr bedeutende Zeugnisse der frühchristlichen Hymnendichtung in lateinischer Sprache angesehen werden: den Psalmus responsorius, die Hymnen des Hilarius von Poitiers, die Hymnen des Marius Victorinus und die Hymnen des Ambrosius (28). Die Durchsicht der Texte zeigt, dass die genannten Hymnendichter nur vereinzelt „das narrative Potential des Alten Testaments aufgegriffen“ haben (43). Im Falle des Hilarius analysiert Freund die zwei jambischen Senare, die dem ersten Hymnus vorangehen (Hil. hym. prooem. 1f., 32). Dabei wählt er vor allem die theologische Auswertung, berücksichtigt aber auch sprachliche Gegebenheiten. Hilarius gelingt es dadurch, dass er „die Psalmen Davids als Hymnen anspricht“, den König von Juda zum „πρῶτος εὑρετής der Gattung des – christlichen – Hymnus“ zu machen (32). Freund bezieht weitere Textstellen ein und kann konstatieren, dass Hilarius mehrfach in seinen theologischen Schriften Aussagen des römischen Dichters Lukrez berücksichtigt. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass solche Rückgriffe ambivalent sind: „Grundsätzlich und programmatisch sieht sich Hilarius als Fortsetzer der alttestamentlichen Psalmendichtung. Metrisch und sprachlich hingegen greift er, wenn auch in innovativer Weise, auf Vorgaben der paganen Dichtung zurück“ (37). Ambrosius indes geht freier mit den Stoffen und Motiven des Alten Testaments um. Er führt das weiter, was Hilarius begonnen hat und „als Programm vorgibt: Die Hymnen setzen die Psalmen fort“ (43).
Ein anderer richtungsweisender Beitrag stammt von Kurt Smolak: Übergänge: ein ,Reisegedicht‘. Paulinus von Nola, carm. 24 Hartel (=Carmina Varia pp. 573-605 Dolveck) (131-151). Bereits im Abschnitt: Vorbemerkung (132-136) macht Smolak darauf aufmerksam, dass Paulinus im 24. Gedicht zahlreiche Neuerungen präsentiert; das Gedicht, das aus 942 epodischen Jamben besteht, gilt als „das längste jambische Gedicht der antiken und spätantiken lateinischen Literatur, also eine quantitative Neuerung gegenüber der Tradition“ (132). In der Geschichte dieser Dichtungsform steht seit Archilochos der Spott im Vordergrund, während der Dichter aus Burdigala/Bordeaux das Epodenmaß „zum Lob des Verhaltens in der Vergangenheit“ verwendet (132). Eine weitere Neuerung besteht darin, dass der Inhalt dieses Jambengedichtes normalerweise in daktylischen Hexametern wiedergegeben wurde. Als vierte Neuerung präsentiert Smolak die Feststellung, dass hier ein persönlicher Brief vorliegt, „der an einen bestimmten, den Empfänger und den Adressaten betreffenden historischen Anlass anknüpft – anders etwa als der Lehrbrief De arte poetica des Horaz“ (132). Smolak erläutert die Technik typologischer Deutungen des Alten Testaments am Beispiel des ausgewählten Gedichtes; dazu liefert er sein Verständnis der Begriffe ‚Typus‘, ‚Typologie‘, ‚typologisch‘ usw. und schlägt eine „über den streng bibelexegetischen Gebrauch hinausgehenden“ Bedeutungserweiterung vor, ja er erwägt sogar den „Neologismus ‚Para-Typologie‘“ (136).
Stefan Weise untersucht, wie Nonnos in seiner Periphrase des Johannes-Textes die Epitheta alttestamentlicher Figuren einsetzt (Alter Wein in neuen Schläuchen? Epitheta alttestamentlicher Figuren in Nonnos‘ Paraphrase des Johannesevangeliums, 269-283). Diese schmückenden Adjektive sind sehr auffällige formale Konstituenten epischer Dichtung, neben der Verwendung des Hexameters. Im Gegensatz zu Homer tendiert Nonnos in seinen Dionysiaka (Διονυσιακά), dem letzten bedeutenden Epos der Antike, dazu, Epitheta für eine Person nur einmal zu verwenden. Allerdings fällt auf, dass die Personen wie Abraham, David und Salomon durch das Epitheton ἀρχέγονος (271, 276 und 280) verbunden werden. Moses etwa wird ἀρχιγένεθλος genannt (271). Die alttestamentlichen Erzväter werden mit Komposita vorgestellt, die mit ἀρχι- oder πρωτο- beginnen, um ihre Bedeutung herauszustellen. David, dessen Name in der Periphrase viermal belegt ist, erhält die Epitheta: ἀριστογόνος, ἀρχέγονος und λυροκτύπος (276). Adam schließlich, der nur einmal erwähnt wird, erhält das Adjektiv πρωτόγονος (280). Den verwendeten Epitheta lassen sich neben ornativen und narrativen auch exegetische Funktionen zuordnen (281). Weise beendet seinen Beitrag mit folgender Bemerkung: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Nonnos bei der Wahl seiner Epitheta für alttestamentliche Personen sorgfältig sowohl inter- als auch intratextuelle Funktionalisierungen erkennen lässt und so ein geschicktes Verweissystem schafft, das seinem poetischen Konzept der ποικαλία entgegenkommt“ (282).
Sylvie Labarre analysiert das Werk des Dracontius De laudibus Dei, Buch III und wählt drei Episoden aus dem Alten Testament aus: das Opfer Abrahams, die Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube (Héros de l’Ancien Testament chez Dracontius. Exempla, exégèse et écriture épique, 285-298). Sie arbeitet dabei heraus, dass Dracontius eher Dichter als Exeget ist. Er greift auf die Metamorphosen Ovids zurück. Als Jurist versteht es der Dichter, seine beruflich erworbenen Fähigkeiten zu zeigen und geeignete Argumente zu liefern. In seiner Situation als Gefangener erhält er die Möglichkeit, durch die Barmherzigkeit Gottes schließlich gerettet zu werden, wenn nicht der Herrscher selbst eingreift (Gunthamund, Vandalenkönig von 484 bis 496 n. Chr.). Das Opfer, das Abraham Gott anbietet, nämlich seinen Sohn Isaak, soll belegen, dass Gott nicht den Tod Unschuldiger anstrebt. Labarre untersucht die entscheidenden Stellen des Alten Testaments und weist nach, dass Dracontius zwar keine originelle Interpretation vorlegt, aber in einzigartiger Weise die Episode des Opfers präsentiert, sei es durch den Ton der Auseinandersetzung, sei es durch die juristischen Formulierungen. Bemerkenswert ist auch die Verwendung einiger Stilmittel wie Oxymora, Antithesen und Paradoxien. Den epischen Charakter des Textes können zum Beispiel Oxymora wie pius immitis (V. 106), bezogen auf Abraham und frigidus ignis […] gelidis […] flammis (V. 173), unterstreichen. Eine gewisse Synthese von Antike und Christentum ist in der Verwendung antiker Mythen zu erkennen. Nach Labarre lässt Dracontius die Antike in einen Dialog mit dem Christentum treten und greift dabei auf drei Mythen zurück: „Dracontius fait dialoguer antiquité et christianisme en ayant recours à trois mythes antiques qui servent de repoussoir: Saturne (Saturnus fulcifer), Hercule (Alcides clarissimus), Diane (crudelis virgo)“ (294).
Bevor Domenico Accorinti die Bücher Samuel vorstellt (La figura di Samuele nella poesia cristiana antica, 391-414), geht er auf das Verhältnis des amerikanischen Literaten William Faulkner zu den biblischen Texten ein; sein Meisterwerk Absalom, Absalom! wurde 1936 publiziert. Der Nobelpreisträger von 1949 verweist bei einer Begegnung mit Studentinnen und Studenten an der Universität von Virginia 1957 darauf, dass er gerne das Alte Testament lese, weil es voll von Menschen sei, nicht von Ideen – wie das Neue Testament (392). Nachdem Accorinti kurz die Bücher Samuel behandelt, befasst er sich mit mehreren christlichen antiken Dichtern, wie sie die Figur Samuels in ihre Werke integriert haben. Zunächst wendet er sich dem griechischen Kirchenvater Gregor von Nazianz zu, dann Werken von Paulinus von Nola, Romanus Melodos und Michael Psellus. Einige knappe Bemerkungen zur Bedeutung der Gedichte und Epigramme von Gregor von Nazianz seien gestattet. Gegenstand der Studie ist, die Spuren in der sehr komplizierten literarischen Figur, hier also Samuels, nachzuzeichnen. Accorinti analysiert das Gedicht Περὶ τῶν καθ‘ ἑαυτόν (2,1,1) des Bischofs von Sasima, in dem dieser Bezüge zwischen seiner Familie und der Samuels herstellt; Gregor vergleicht seine Mutter Nonna mit Anna, der Mutter Samuels. Im Gedicht wird der Sohn, also Gregor, als neuer Samuel bezeichnet: νέος Σαμουήλ (V. 431). Beide Frauen haben im hohen Alter ein Kind geboren. Damit stellt Gregor eine Chronologie her, die mit Anna beginnt, die ein Kind als Jungfrau zur Welt bringt, genauso wie Elisabeth und Maria (V. 427-428). In einem anderen Gedicht, nämlich Eἰς τὸν ἑαυτοῦ βίον (2,1,11), geht es auch um die Geburt Gregors; hier ist seine Mutter eine Art Ebenbild von Sara, die im Alter von 90 Jahren ihren Sohn Isaak gebar. Auch in diesem Gedicht, das beinahe 1950 iambische Verse umfasst, beschreibt sich Gregor als neuer Samuel (V. 91).
Zum Schluss möchte ich auf einige Aspekte des letzten Beitrages von Thomas Gärtner eingehen (Die Verführungsrede der Schlange in den verschiedenen Genesisversifikationen, 415-444). Die Literatur zur Verführungsrede der Schlange (Gen 3, 1-6) ist sehr umfangreich. Umfassend hatte sich etwa Siegmar Döpp in seiner Publikation mit der Thematik befasst, vor allem auch mit der Rezeption beim spätantiken Epiker Alcimus Avitus (Eva und die Schlange. Die Sündenfallschilderung des Epikers Avitus im Rahmen der bibelexegetischen Tradition, Kartoffeldruck-Verlag Speyer 2009). Gärtner befasst sich insbesondere mit zwei Fragen: „1. Ob und in welcher Form sich die Schlange speziell an Eva als Frau wendet und wie diese die Erbsünde an ihren Mann weiterträgt, und 2. wie die räumlichen Verhältnisse zwischen Schlange, Adam und Eva imaginiert werden“ (416). Gärtner prüft zunächst einige spätantike Bibelepiker, bevor er sich der von Alcimus Avitus gewählten Darstellung zuwendet. Da der Vulgata-Text Freiräume zulässt, haben die Epiker die Möglichkeit ausgeschöpft, verschiedene Deutungen zu wählen. Maßgebend für alle späteren Bearbeiter der Bibelstelle ist Alcimus Avitus (geb. um 460, gest. 518). Dieser Bibelepiker hat „als erster die theologische Ausdeutung, dass in der Schlange der Teufel zu Eva redet, in die Dichtung eingeführt“ (417). Hierbei greift Gärtner auf Analysen von Siegmar Döpp zurück. Gärtner gelangt aufgrund genauer Untersuchungen der ausgewählten Texte zum Resultat, dass das Schuldverständnis zwischen Adam, Eva und der Schlange sehr unterschiedlich konzipiert wurde. Bei Melchior Durrius steht nach Gärtner ein „religiös-kontemplativer Adam“ einer „initiativen Sünderin Eva“ gegenüber (426), während bei Johannes Opsopaeus Adam und Eva schlichtweg als Opfer der Rede des Teufels gelten können (426); John Milton hingegen entlastet in Paradise Lost Eva dadurch, dass er der Schlange Raffinesse unterstellt, Adam seinerseits stehe loyal auf Seiten seiner Frau und sei daher ebenfalls schuldlos (426).
Die Untersuchungen bieten ein breites Spektrum; sie nehmen Bezug auf alttestamentliche Gestalten wie Elias (bei Commodian), Moses (bei Prudentius), Samuel (bei Gregor von Nazianz, Paulinus von Nola, Romanos Melodos und Michael Psellos). Forscherinnen und Forscher analysieren die Verwendung bestimmter Motive wie das Opfer Abrahams, die Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube bei Dracontius und Jakobs Kampf mit Gott bei Prudentius. Des Weiteren gibt es Beiträge, die die Technik typologischer Interpretation des Alten Testaments beleuchten, wie bei Sedulius, Avitus, Arator und Romanos Melodos. Auch das Werk des Heptateuchdichters wird in verschiedenen Aufsätzen untersucht. Abschließend lässt sich konstatieren, dass die Beiträge insgesamt einen Erkenntnisfortschritt bewirken, da sie das Verständnis dafür erleichtern helfen, wie die christlichen Dichter Stoffe, Themen und Figuren des Alten Testaments in ihren Werken verarbeitet haben.
Dietmar Schmitz
Juli 2024
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Bea Fitzgerald, Girl, Goddess, Queen. Mein Name ist Persephone. Übersetzt aus dem Englischen von Inka Marter, München (cbj Kinder- und Jugendbuchverlag) 2023, ISBN 978-3-570-18098-3, 489 Seiten, € 20,00 (Englische Originalausgabe: Girl, Goddess, Queen. London 2023)
Der Raub der Persephone bzw. Proserpina hat sich seit Langem als geeigneter Stoff für literarische Produktionen erwiesen. So bearbeitete beispielsweise Claudian ihn in seinem mythologischen Epos De raptu Proserpinae. Was aber, wenn Persephone überhaupt nicht geraubt worden ist? Eine solche Version kann gelesen werden in „Girl, Goddess, Queen“ von Bea Fitzgerald. Fitzgerald ist Writing Coach bei „The Novelry“, Autorin und Content Creatorin mit einer Vorliebe für die griechische Mythologie (@chaosonolympus) bei TikTok und Instagram. Ihre Debütromantasy „Girl, Goddess, Queen“ landete auf Anhieb auf der Sunday-Times-Bestsellerliste.
Kore, die Tochter der Göttin Demeter und selbst Göttin der Blumen, lebt von ihrer Mutter beschützt und abgeschirmt auf der Insel Sizilien. Sie lernt Sittsamkeit, Benimm und Anstand – all das, was in den Augen ihrer Mutter und der Olympier von einer jungfräulichen Göttin bei ihrer Hochzeit zu erwarten ist. Doch Kore ist nicht so – in dem augenscheinlich schüchternen, zurückhaltenden und naiven Mädchen steckt ein emanzipierter und einfallsreicher Geist, der sich nach Selbstbestimmung und Macht sehnt. Und eines will sie sicherlich nicht: verheiratet werden. Als sich Demeter auf den Olymp begibt, um mit Zeus Heiratsangebote für ihre Tochter zu sammeln, ist Kores Chance gekommen: „Ich war brav. Ich war gehorsam. Ich war so verdammt perfekt. Als ich also schließlich durchdrehte, drehte ich richtig durch“ [41]. Mit geschickten Tricks gelingt es ihr, Hades, den Gott der Unterwelt, dazu zu bringen, sie in sein Reich einzulassen und dort zu beschützen und zu bewirten. Denn Hades ist der einzige Gott, von dem sie keine Geschichten von Gewalt an Frauen kennt. Doch Kore sitzt nicht still in Hades‘ Palast und wartet darauf, dass ihr Verschwinden bemerkt wird, sondern beginnt, die karge Unterwelt nach ihren eigenen Vorstellungen zu verändern. Nach anfänglichen Streitereien entwickeln sich Vertrauen und Nähe zwischen dem König der Unterwelt und der Göttin der Blumen, die eine ganz neue Seite an ihrem Gastgeber kennenlernt. Unter einem neuen, selbstgewählten Namen nimmt die „Chaosstifterin“ [192] Persephone mit Hades ihr Schicksal selbst in die Hand und greift gleichzeitig nach der Macht, die ihr als Kore stets verwehrt geblieben ist.
Geschildert wird das Geschehen aus der Sicht Kores/Persephones. Das Lesepublikum erhält dabei stets Einblicke in ihre Gedanken und Gefühle, die manchmal so gar nicht zu ihrem Verhalten passen (wollen/dürfen): „Was bin ich, wenn nicht Expertin darin, eine Fassade aufrechtzuerhalten?“ [56] Durchzogen wird die Schilderung dadurch von viel Humor, Ironie und Sarkasmus. Die Sprache ist geprägt von einem anglophonen Umgangston (z.B. Hey [163], Sorry [163], Okay [172], Show [190]) und bisweilen auch vulgären Ausdrücken (so muss sich Hades als „Arschloch“ bezeichnen lassen [103] und Kore macht deutlich, dass sie nicht mit ihm „ficken will“ [189]). Die detailreiche und lebhafte Schilderungsweise der Autorin machen diese spannende Romantasy für Freund:innen von „Enemies-To-Lovers“-Büchern, die über eine emanzipierte Protagonistin lesen wollen, auf jeden Fall lesenswert.
Im August 2024 erscheint der zweite Band der Reihe in deutscher Übersetzung: „Princess, Prophet, Saviour – Kassandra, die Prophetin, der keiner glaubt“.
Philipp Buckl, Bergische Universität Wuppertal